1.2 Wiederholungen: Schöner
Für unser nächstes Experiment wählen wir den gleichen Grundaufbau wie für das Priming-Experiment. Wir präsentieren wieder Bilder in zufälliger Reihenfolge und wiederholen nach einiger Zeit die Präsentationen. Aber dieses Mal messen wir keine Reaktionszeiten, sondern fragen unsere Versuchspersonen, wie gut ihnen das jeweilige Bild gefällt. Dazu lassen wir sie beispielsweise nach jedem Bild einfach eine Zahl zwischen Null („gefällt mir gar nicht“) und Zehn („gefällt mir sehr gut“) angeben. Wenn wir uns jetzt in die Lage einer Versuchsperson versetzen, kommt uns diese Aufgabe vielleicht sinnlos vor. Wir gehen natürlich davon aus, dass uns ein Bild nicht mehr oder weniger gefallen wird, nur weil wir es ein paar Minuten zuvor schon einmal gesehen haben. Ein typisches Ergebnis eines solchen Wiederholungsexperimentes zeigt jedoch, dass die wiederholten Bilder im Durchschnitt tatsächlich positiver beurteilt werden als die Erstpräsentationen. Im Fachjargon wird dieser überraschende Befund als Mere-Exposure-Effekt bezeichnet [3]. Mere Exposure könnte man umständlich als bloßes Ausgesetztsein übersetzen. Mit diesem Begriff soll ausgedrückt werden, dass es ausreicht, einer Sache einmal ausgesetzt zu sein, um es bei einer erneuten Begegnung positiver zu beurteilen. Auch dieser Effekt wurde für alle möglichen Versuchsmaterialien gezeigt – neben Bildern funktioniert er beispielsweise auch mit Wörtern, Buchstabenfolgen, Geräuschen und unbekannten chinesischen Schriftzeichen. Eine besonders interessante Variante dieses Effekts entsteht bei der Beurteilung der Attraktivität von Personen. Wenn Versuchspersonen Fotos von Gesichtern gezeigt werden und sie angeben müssen, wie attraktiv sie die abgebildeteten Personen finden, findet sich ebenfalls einen Mere-Exposure-Effekt: Personen, die man bereits zuvor schon gesehen hat, werden attraktiver eingeschätzt!
Wie in dem Priming-Experiment lässt sich auch für den Mere-Expose-Effekt zeigen, dass kein bewusstes Wiedererkennen notwendig ist, damit der positivere Eindruck bei der erneuten Verarbeitung entsteht. Selbst wenn wir bereits vergessen haben, dass wir ein Bild schon einmal gesehen haben, wirkt der Effekt der Wiederholung. Wie kommt diese Wirkung zustande? Wie wir bereits wissen, hinterlässt die erste Verarbeitung bleibende Spuren im Gehirn. Wir haben diese Spuren mit dem Anlegen eines Trampelpfades im Dickicht Milliarden Nervenzellen verglichen. Der Priming-Effekt entsteht, weil Informationen auf dem angelegten Trampelpfad schneller transportiert werden können. Der Verarbeitungsweg wird gebahnt. In Folge der schnelleren Informationsverarbeitung sind dann die Reaktionszeiten verkürzt. Die erleichterte Verarbeitung fällt uns nicht bewusst auf und sie ist selbst dann messbar, wenn wir uns an ein Bild nicht erinnern.
Bis zu diesem Punkt haben wir so getan, als würde das Gedächtnis nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip funktionieren. Wir erinnern uns oder wir erinnern uns nicht. Der Abruf aus dem Gedächtnis gelingt oder er gelingt nicht. Was bedeutet es aber, wenn wir uns nicht erinnern – wenn also der Abruf aus dem Gedächtnis nicht gelingt? Wir kennen alle die Situation, dass wir etwas vergessen, was uns dann zu späteren Zeitpunkt wieder einfällt. In solchen Fällen ist offensichtlich, dass Vergessen nicht bedeuten muss, dass Informationen nicht mehr im Gedächtnis vorhanden sind. Wir finden die Information nur nicht. Der Begriff Wiedererkennen beschreibt also nur den Prozess, dass uns bewusst wird, dass wir ein bestimmtes Bild schon einmal gesehen haben. Es kann aber auch passieren, dass uns ein Bild irgendwie vertraut vorkommt. Wir erinnern uns nicht bewusst daran, dass wir es während des Versuchs schon gesehen haben, aber wir haben irgendwie das Gefühl, das Bild zu kennen. Die Wiederholung kann also zu direktem Wiedererkennen führen oder zu einem Gefühl der Vertrautheit. Dieses Gefühl der Vertrautheit wird als mögliche Ursache des Mere-Exposure-Effektes angesehen.
Beim Mere-Exposure-Effekt wird durch die erste Präsentation die Verarbeitung der Wiederholung gebahnt. Diese Bahnung ist uns nicht bewusst, aber die erleichterte Bearbeitung der Aufgabe führt zu einem Gefühl der Vertrautheit. Der nächste Erklärungsschritt ist nun, dass Menschen Dinge, die ihnen vertraut sind, tendenziell positiver bewerten, als unvertraute Dinge. Mit anderen Worten, wenn wir etwas bereits kennen, beurteilen wir es als besser. Vielen begegnet dieses Phänomen im Alltag beispielsweise, wenn sie Musik hören. Beim ersten Hören findet man ein Musikstück noch allenfalls mittelmäßig, aber nach mehreren Wiederholungen erscheint es geradezu hitverdächtig. Möglicherweise spielt hier eine angeborene Skepsis gegenüber Neuem eine Rolle, die evolutionsbiologisch durchaus eine nachvollziehbare Funktion haben könnte. Platt gesprochen: „Wat de Buer nich kennt, dat frett he nich…“! Wenn wir bereits die Erfahrung gemacht haben, dass wir etwas nicht fürchten müssen, ist das positiv. Man könnte dementsprechend auch umgekehrt formulieren, dass der Mere-Exposure-Effekt widerspiegelt, dass bekannte Informationen weniger negativ bewertet werden als neue Informationen.
Der Mere-Exposure-Effekt ist eine wichtige Säule vieler Werbestrategien. Die Beliebtheit eines Produkts (oder einer Person) durch simples Wiederholen zu erhöhen, ist eine vergleichsweise billige Methode. Natürlich gibt es im echten Leben außerhalb des Versuchslabors meist noch weitere Faktoren, die unsere Gesamtbeurteilung beeinflussen können. Nichtsdestotrotz ist der Mere-Exposure-Effekt eine beeindruckende Demonstration unbewusster Einflussnahme auf unsere Meinungsbildung (Anm. 1).
Anmerkungen:
(1) Die Begriffe Meinung, Wertung und Einstellung werden hier im umgangsprachenlichen Sinn ohne klare Trennung und ohne wissenschaftliche Definition verwendet.
Quellen:
[3] Zajonc, R. B. (1980). Feeling and thinking: Preferences need no inferences. American Psychologist, 35(2), 151–175. https://doi.org/10.1037/0003-066X.35.2.151