Testet die Geimpften!
Viele Wenig machen ein Viel...
Verfasst am 25.09.2021
Das Aussetzen der Testpflicht für geimpfte Menschen führt dazu, dass mehr Virus-Übertragungen von dieser Personengruppe ausgehen, als von ungeimpften Menschen. Geimpfte Menschen nicht zu testen, ist daher im Hinblick auf die Eindämmung von Covid-19 kontraproduktiv und die Benachteiligung von nicht-geimpften Menschen verstößt gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.
Wenn man das präventive Testen von Menschen, die keine Krankheitssymptome zeigen, grundsätzlich für eine sinnvolle Strategie hält, dann ist es höchst problematisch, geimpfte Menschen nicht zu testen. Für die Verbreitung von Covid-19 im öffentlichen Leben dürften vor allem zwei Personengruppen relevant sein:
- Geimpfte Erwachsene, die symptomlos bleiben.
- Nicht-geimpfte Erwachsene, die symptomlos infiziert sind und bei denen das Testergebnis fälschlicherweise negativ ausfällt.
Geimpfte und nicht-geimpfte Erwachsene mit Krankheitsssymptomen sind weniger relevant, da sie sich in häusliche Quarantäne begeben. Kinder können ausgeklammert werden, da sie nach Angaben des RKI kaum zur Verbreitung des Virus beitragen (Epidemiologisches Bulletin 33/2021). Präsymptomatische infizierte nichte-geimpfte Menschen werden durch die regelmäßigen Tests, z.B. für Studium, Beruf und kulturelle Veranstaltungen, rechtzeitig „aus dem Verkehr” gezogen. Das Hauptrisiko stellen also die symptomlosen infizierten Menschen dar, die entweder geimpft sind oder die ungeimpft sind und falsch-negativ getestet werden.
Wie groß diese beiden Personengruppen zahlenmäßig sind, hängt von der Impfquote, der Wahrscheinlichkeit von Impfdurchbrüchen, der Testsensitivität und der Infektionswahrscheinlichkeit in der Gruppe der nicht-geimpften Menschen ab. Bis auf die Infektionwahrscheinlichkeit sind diese Parameter bekannt. Damit lässt sich in einem einfachen Modell abschätzen, wie groß der Infiziertenanteil bei den nicht-geimpften Menschen sein muss, um dem Anteil der symptomlos infizierten geimpften Menschen zu entsprechen. Mit anderen Worten ist die Ausgangsfrage, wie viele nicht-geimpfte Personen infiziert sein müssten, damit beide Gruppen in Bezug auf die Virusverbreitung vergleichbar groß sind.
In Abbildung 1 ist dargestellt, welche Parameter bekannt sind, um diese Frage zu beantworten. Nimmt man mit Stand vom 21.09.2021 an, dass in Deutschland 74 % der erwachsenen Bevölkerung geimpft sind, gibt es in einer Stichprobe von 1000 Erwachsenen 740 geimpfte Personen. Nach einer israelischen Studie muss man bei den geimpften Menschen mit ca. 20 Impfdurchbrüchen (2,6 %) rechnen (Bergwerk et al., 2021). Die Studie zeigt auch, dass etwa ein Drittel dieser Infektionen – also sieben Fälle – symptomlos verläuft. Es gibt demnach, bezogen auf 740 geimpfte Menschen, sieben geimpfte Personen, die unbemerkt als Ansteckungsquelle dienen könnten. Diese Zusammenhänge sind in Abbildung 1 auf der linken Seite dargestellt.
Wie hoch müsste nun der Infiziertenanteil bei den 260 nicht-geimpften Personen sein, damit in dieser Gruppe ebenfalls sieben Personen auftreten, die ein falsch-negatives Testergebnis erhalten und symptomlos sind? Dies lässt sich anhand von Abbildung 1 sehr einfach „rückwärts” herleiten. (Zum Nachvollziehen beginnt man unten rechts bei den sieben asymptomatischen Fällen und verfolgt den Rechenweg von unten nach oben.) Die Ergebnisse dieser Herleitung sind in Abbildung 2 eingetragen. Der Anteil von asymptomatischen Verläufen wird hier der Einfachheit halber ebenfalls auf 33,3 % gesetzt. (Meta-Analysen schätzen ihn auf 20 %; Buitrago-Garcia et al., 2020.) Daraus folgt, dass 21 Personen einen negativen Test haben müssten. Die Testsensitivität liegt bei den meisten verwendeten Antikörper-Tests über 90 %. Also würden höchstens 10 % der infizierten Personen fälschlicherweise negativ getestet werden. Daraus folgt, dass 210 nicht-geimpfte Personen infiziert sein müssten. Das heißt, dass 81 % (210 von 260) der nicht-geimpften Personen infiziert sein müssten, damit sieben Personen die Kriterien (i) nicht-geimpft, (ii) asymptomatisch infiziert und (iii) falsch-negativ getestet erfüllen.
Ein so hoher Anteil von Infizierten ist nach dem aktuellen Wissen über die Epidemiologie von Covid-19 extrem unwahrscheinlich. Zum Vergleich betrug beispielsweise der Anteil infizierter Personen in der Placebo-Gruppe der Zulassungsstudie von Pfizer/BioNtech lediglich 0,88 % in einem ähnlichen Zeitraum (Polack et al., 2020). Einer aktuellen systematischen Übersichtsarbeit zufolge beträgt selbst das Ansteckungsrisiko von Haushaltsangehörigen einer infizierten Person durchschnittlich nur 16,6% (Madewell et al, 2021). Im Umkehrschluss folgt daher, dass, wenn der Infiziertenanteil bei nicht-geimpften Personen unter 81 % liegt, eine höhere Ansteckungsgefahr von der Gruppe der geimpften Personen ausgeht.
Da der Infiziertenanteil in der Realität bei nicht-geimpften Personen erheblich niedriger als 81 % sein dürfte, wird das relative Ansteckungsrisiko durch geimpfte Personen entsprechend höher sein. Zusätzlich wird in dieser Modellrechnung die natürliche Immunisierung vollständig außer Acht gelassen. Da nach Angaben des RKI in Deutschland rund 90.000 Covid-19 Sterbefälle gezählt wurden und die Infektionssterblichkeit zwischen 0,2-0,4 % liegt, müssten bereits zwischen 22,5-45 Mio. Menschen auf natürlichem Wege immunisiert sein. Der Infiziertenanteil in der Gruppe der nicht-geimpften Personen dürfte damit also noch deutlich kleiner sein.
Als möglicher Gegeneinwand könnte vorgebracht werden, dass die Ansteckungsgefahr durch geimpfte Personen niedriger sei, als durch nicht-geimpfte Personen. Aktuelle Studien zeigen jedoch für die derzeit dominierende Delta-Variante, dass die Viruslast bei geimpften und nicht-geimpften infizierten Menschen vergleichbar ist (Subbaraman, 2021).
Letztlich folgt schon aus rein logischen Überlegungen, dass bei hohen Impfquoten mehr Übertragungen von geimpften als von nicht-geimpften Personen ausgehen werden. Die obige Beispielrechnung veranschaulicht, dass dies bereits jetzt weit überwiegend der Fall sein dürfte. Vor diesem Hintergrund ist es für das Ziel der Eindämmung vollkommen kontraproduktiv, wenn gerade die Personengruppe, die mehr zur Verbreitung beiträgt, weniger häufig getestet wird. Wenn dann die weniger zur Verbreitung beitragende Gruppe auch noch mehr Einschränkungen unterworfen wird, widerspricht dies klar dem Grundsatz der Gleichbehandlung. ❖
Quellen
Bergwerk, M., Gonen, T., Lustig, Y., Amit, S., Lipsitch, M., Cohen, C., Mandelboim, M., Gal Levin, E., Rubin, C., Indenbaum, V., Tal, I., Zavitan, M., Zuckerman, N., Bar-Chaim, A., Kreiss, Y., & Regev-Yochay, G. (2021). Covid-19 Breakthrough Infections in Vaccinated Health Care Workers. New England Journal of Medicine, 0(0), null. https://doi.org/10.1056/NEJMoa2109072
Buitrago-Garcia, D., Egli-Gany, D., Counotte, M. J., Hossmann, S., Imeri, H., Ipekci, A. M., Salanti, G., & Low, N. (2020). Occurrence and transmission potential of asymptomatic and presymptomatic SARS-CoV-2 infections: A living systematic review and meta-analysis. PLoS Medicine, 17(9), e1003346. https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1003346
Madewell, Z. J., Yang, Y., Longini, I. M., Halloran, M. E., & Dean, N. E. (2020). Household Transmission of SARS-CoV-2: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Network Open, 3(12), e2031756. https://doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2020.31756
Polack, F. P., Thomas, S. J., Kitchin, N., Absalon, J., Gurtman, A., Lockhart, S., Perez, J. L., Pérez Marc, G., Moreira, E. D., Zerbini, C., Bailey, R., Swanson, K. A., Roychoudhury, S., Koury, K., Li, P., Kalina, W. V., Cooper, D., Frenck, R. W., Hammitt, L. L., … Gruber, W. C. (2020). Safety and Efficacy of the BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine. New England Journal of Medicine, 383(27), 2603–2615. https://doi.org/10.1056/NEJMoa2034577
Subbaraman, N. (2021). How do vaccinated people spread Delta? What the science says. Nature, 596(7872), 327–328. https://doi.org/10.1038/d41586-021-02187-1