Antibody of Knowledge
Verfasst am 21.3.2022
Am 15.01.2022 hatte das Robert-Koch-Instituts (RKI) die fachlichen Vorgaben für die Vergabe von COVID-19- Genesenennachweisen dahingehend geändert, dass eine Verkürzung des Genesenenstatus auf drei Monate nur für nicht gegen Sars-Cov-2 geimpfte Menschen galt. Geimpfte Personen, die eine Covid-19 Infektion durchmachten, galten demnach offiziell für sechs Monate als „genesen“.
Diese Vorgaben wurden durch die Änderung des Infektionsschutzgesetzes am 19.3.2022 außer Kraft gesetzt. Im Hinblick auf die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit des RKI ist es dennoch sehr aufschlussreich, sich die Argumentation zu dieser Empfehlung im Einzelnen anzuschauen.
Wörtlich schreibt das RKI in seiner „Wissenschaftlichen Begründung“:
Die Gültigkeit des Genesenennachweises wurde von 6 Monaten auf 90 Tage reduziert, da die bisherige wissenschaftliche Evidenz darauf hindeutet, dass Ungeimpfte nach einer durchgemachten Infektion mit der Deltavariante oder einer früheren Virusvariante einen im Vergleich zur Reinfektion mit der Deltavariante herabgesetzten und zeitlich noch stärker begrenzten Schutz vor einer SARS-CoV-2-Infektion mit der Omikronvariante haben (1-3).
Man beachte, dass sich diese Formulierung ausschließlich auf „Ungeimpfte“ bezieht. Die Aussage ist, dass für nicht geimpfte Menschen eine Infektion mit der Omikronvariante wahrscheinlicher ist als eine Reinfektion mit der Deltavariante. Logischerweise würde man jetzt einen zeitlichen Vergleich des Immunschutzes zu Omikroninfektionen bei geimpften Menschen erwarten, da deren Genesenenstatus ja nicht verkürzt wurde. Im Verlauf dieses Artikels wird dargelegt, dass das RKI diesen Vergleich schuldig bleibt.
Das Ziel der Verkürzung gibt das RKI wie folgt an:
Bei den fachlichen Vorgaben für COVID-19-Genesenennachweise geht es primär um den o.g. Schutz vor Virusübertragung (iii) bzw. das Risiko, dass die genesene Person asymptomatisch mit SARS-CoV-2 infiziert ist und das Virus auf andere Menschen übertragen kann.
Durch diese Zielstellung lenkt das RKI verhältnismäßig plump davon ab, dass normalerweise das Verhindern schwerer Erkrankungen im Zentrum der gesundheitspolitischen Bemühungen stehen müssten. Nun zeigen die vorhandenen Daten aber, dass schwere Erkrankungen durch die Omikronvariante selten sind. Diese Tatsache führt dazu, dass der Stichprobenumfang von Fällen mit schweren Verläufen in den einzelnen Studien so klein sind, dass keine belastbaren Rückschlüsse auf Unterschiede zwischen Reinfektionen von geimpften und genesenen Personen möglich sind. Somit bleibt dem RKI letztlich nur der Rückgriff auf alle positiven Fälle, um wenigstens den Anschein zu bewahren, man würde sich auf belastbare Zahlen berufen.
Insgesamt gibt das RKI sieben Publikationen zur Untermauerung seiner Vorgaben an:
- Ferguson et al.: Hospitalisation risk for Omicron cases in England. Imperial College London (22-12-2021)
- UK Health Security Agency: SARS-CoV-2 variants of concern and variants under investigation in England. Technical briefing 34
- Altarawneh et al.: Protection afforded by prior infection against SARS-CoV-2 infection with the Omicron variant. Preprint. https://www.medrxiv.org/content/10.1101 /2022.01.05.22268782v1
- Wissenschaftliche Begründung der STIKO für die Empfehlung zur Verkürzung des Impfabstands zwischen Grundimmunisierung bzw. Infektion und Auffrischimpfung auf einen Zeitraum ab 3 Monaten https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2022/02 /Art_01.html;jsessionid=E133C892AAE2F6A7D946094EB6C1AC46.internet052?nn=13490888
- Gruell, H., Vanshylla, K., Tober-Lau, P., Hillus, D., Schommers, P., Lehmann, C., ... & Klein, F. (2022). mRNA booster immunization elicits potent neutralizing serum
- Schmidt, F., Muecksch, F., Weisblum, Y., Da Silva, J., Bednarski, E., Cho, A., ... & Bieniasz, P. (2021) Plasma neutralization properties of the SARS-CoV-2 Omicron variant (preprint).
- Rössler A, Riepler L, Bante D, von Laer D, Kimpel J. SARS-CoV-2 Omicron Variant Neutralization in Serum from Vaccinated and Convalescent Persons. N Engl J Med. 2022 Jan 12
Bei Publikation (4) handelt es sich um die frühere Begründung zur Verkürzung des Genesenenstatus, die sich im Dezember 2021 noch auf geimpfte und nicht geimpfte Personen bezog. Da man zu diesem Zeitpunkt keine Veranlassung gesehen hatte, den Genesenenstatus zwischen geimpften und nicht geimpften Personen zu differenzieren, können diese Ausführungen für die Änderung vom 15.01.2022 nicht wesentlich sein. Im Folgenden wird daher der Frage nachgegangen, ob die sechs vom RKI angeführten empirischen Studien tatsächlich eine wissenschaftliche Begründung für die Verkürzung des Genesenenstatus auf drei Monate für nicht geimpfte Menschen liefern.
Vorab sei angemerkt, dass nur die Publikationen 1.-3. sich auf epidemiologische Daten beziehen, d.h. in diesen Studien wird tatsächlich die Verbreitung von Covid-19 unter geimpften und nicht geimpften Menschen untersucht. Bei 5.-7. handelt es sich um Laborstudien, in denen die Konzentration neutralisierender Antikörper in Blutproben untersucht wurden. Diese Studien geben nur indirekte Hinweise auf den Schutz vor Infektionen. Weiterhin wurde nur Studie 5 dem in der Wissenschaft üblichen Qualitätssicherungsprozess (Peer Review) unterzogen. Die übrigen Publikationen erfolgten direkt durch die Autoren selbst oder als „Letter to the Editor“ (7). Dies stellt für sich genommen selbstverständlich keinesfalls eine grundsätzliche Einschränkung der Qualität oder der Interpretierbarkeit der Studien dar. Es bedeutet aber, dass man gut beraten ist, sich selbst ein Bild zu machen und nicht unkritisch den Interpretationen anderer (z.B. denen des RKI) zu folgen.
Also – der Genesenenstatus von nicht geimpften Menschen soll auf drei Monate beschränkt werden, um den Schutz vor Übertragung zu verbessern. Welche Evidenz liefern die zitierten Studien für diese Empfehlung?
Studie 1: Ferguson et al. (2021)
Ferguson et al. (2021) berichten, wie häufig Reinfektionen bei verschiedenen Fallgruppen vorkommen. Das RKI schreibt mit Bezug auf diese Studie:
Die vorliegenden Studien zeigen insbesondere, dass es unter dominanter Zirkulation der Omikronvariante bei zuvor infizierten und nicht geimpften Personen häufig zu Reinfektionen kommt (1).
Die folgende Tabelle ist eine modifizierte Version von Tabelle 3 aus Ferguson et al. (2021). Der linke Teil der Tabelle ist identisch zum Original, die absoluten Häufigkeiten in den beiden rechten Spalten und die Summe über alle Impfgruppen in der letzten Zeile wurden ergänzt (grau und kursiv).
Aus der Tabelle wird zunächst deutlich, dass Hospitalisierungen selten sind. Da das RKI bei seiner Begründung die Krankheitsschwere aus der Betrachtung ausklammert (s.o.), genügt es aber, auf die Rate der Reinfektionen in Bezug auf die Fallzahlen (Cases) zu schauen. Die Aussage des RKI, diese Studie zeige häufige Reinfektionen bei nicht geimpften Menschen, bezieht sich vermutlich auf die 19 % Reinfektionen in der Kategorie „Unvaccinated“. Von allen nicht geimpften Omikronfällen waren also 19 % zuvor schon mit einer früheren Variante infiziert. Das klingt nach häufig, allerdings verschweigt das RKI an dieser Stelle den Anteil von Reinfektionen bei den Impfgruppen. Über alle Impfgruppen gerechnet beträgt die Rate der Reinfektionen 11 %. Als vollständig geimpft gilt man in Deutschland (im Januar 2022) vierzehn Tage nach dem Erhalt der zweiten Impfdosis (https://www.pei.de/DE/newsroom/dossier/coronavirus/coronavirus-inhalt.html?nn=169730&cms_pos=3). Für diese Personengruppe (D2:14+) beträgt die Rate der Reinfektionen 13 %. Der Unterschied zwischen den aus rechtlicher Sicht hier relevanten Vergleichsgruppen beträgt also 6 %.
In einer neutralen und transparenten Darstellung hätte das obige RKI-Zitat demnach lauten können: (Ergänzungen kursiv)
Die vorliegenden Studien zeigen insbesondere, dass es unter dominanter Zirkulation der Omikronvariante bei zuvor infizierten und nicht geimpften Personen
häufigzu 19 %zuReinfektionen kommt (1). Bei zuvor infizierten und vollständig geimpften Personen kommt es dagegen zu 13 % Reinfektionen.
Diese Verschleierungstaktik durch die Wortwahl und das Weglassen des Kontexts ist an sich schon wissenschaftlich fragwürdig. Noch viel wichtiger ist aber, dass aus den Ergebnissen dieser Studie unmöglich die Notwendigkeit eines verkürzten Genesenenstatus für nicht geimpfte Menschen abgeleitet werden kann, weil ja die Dauer des Immunschutzes in der Studie gar nicht untersucht wurde! Daten zum zeitlichen Abstand zwischen Erstinfektion und Reinfektion bei den nicht geimpften Personen liefert diese Studie ebenso wenig, wie Daten zum Abstand zwischen letzter Impfung und Erstinfektion bei den geimpften Personen. Ohne derartige Daten lässt sich aber die Dauer des Genesenenstatus (unabhängig vom Impfstatus!) nicht kausal begründen. Wenn ich zeigen will, dass in Villariba doppelt so schnell abgewaschen wird wie Villabajo, reicht es nicht, die schmutzigen Pfannen in Villabajo zu zählen. Mit anderen Worten, die Daten müssen zur Fragestellung passen – hier tun sie es nicht.
Studie 2: UK Health Security Agency
Die zweite Studie zitiert das RKI wie folgt:
Daten der britischen SIREN-Studie (2) weisen darauf hin, dass Genesene unter diesen Bedingungen [Anm. d. Verf.: gemeint ist die dominante Zirkulation der Omikronvariante] nur noch eine Schutzwirkung von ca. 40% gegenüber Reinfektionen aufweisen. Der Schutz von 40% bezieht sich auf die Verhinderung jeglicher (d.h. symptomatischer und asymptomatischer) Infektionen.
In der SIREN Studie werden britische Beschäftigte im Gesundheitswesen regelmäßig mit PCR-Tests untersucht. Das RKI nimmt in seiner Aussage Bezug auf die Ergebnisse in folgender Tabelle (Tabelle 3 der Publikation):
Bei der Interpretation dieser Daten ist zunächst zu beachten, dass es sich hier um eine sehr spezielle Stichprobe handelt. Sie besteht aus rund 18.000 Krankenhausbeschäftigten, von denen nur ein Bruchteil nicht geimpft ist. Die Berechnungen der Effektivität der Impfung beziehen sich jedoch immer auf die Infektionsrate der Personen ohne Impfung und ohne vorherige Infektion. Diese beträgt laut Tabelle etwa 24 % (21 Infektionen bei 87 nicht geimpften Personen). Kurioserweise wird dadurch die Qualität der Hauptaussagen dieser Studie mit über 18.000 Teilnehmern wesentlich durch die Ergebnisse von 87 Teilnehmern bestimmt. Diese 24 % stehen im Nenner der Berechnung der Incidence Rate Ratios, IRR, aus denen dann die Impfeffektivität als 1 – IRR berechnet wird.
Die Aussage des RKI, dass eine vorherige Infektion eine Schutzwirkung von ca. 40 % habe, dürfte sich auf die in der Tabelle aufgeführte Impfeffektivität von 44 % beziehen (prior infection, unvaccinated). Um diesen Wert einordnen zu können, lohnt sich wieder ein Blick auf die zweifach geimpften Menschen, die in Deutschland als vollständig geimpft gelten. Betrachtet man zunächst diejenigen mit zwei Impfdosen ohne vorherige Infektion, stellt man fest, dass für sie die Schutzwirkung der Impfungen nur 32 % beträgt. Sie haben also ein höheres Risiko für eine erste Infektion im Vergleich zur Reinfektion nicht geimpfter genesener Personen. Für doppelt geimpfte Personen mit vorheriger Infektion beträgt die Impfeffektivität dagegen 60 %. Demnach sind zweifach geimpfte Menschen um 14 % besser geschützt als nicht geimpfte genesene Menschen. Wie schon bei Studie 1 könnte man jetzt fragen, inwiefern aus dieser Differenz von 14 % eine Verkürzung des Genesenenstatus von drei Monaten inhaltlich begründet werden kann. Ein zusätzlicher Blick in die letzte Spalte der Tabelle erübrigt jedoch diese Frage. In dieser Spalte ist für die Impfeffektivität das sogenannte 95 % Konfidenzintervall angegeben. Bei den Reinfektionen in der „Unvaccinated“ Gruppe reicht dieses Intervall von 4 % bis 67 %, für die „Vaccinated 2 dose“ Gruppe reicht es von 36 % bis 75 %. Konfidenzintervalle geben den Wertebereich an, in dem die Ergebnisse auf Basis der Stichprobe als plausibel angesehen werden können. Alle Werte außerhalb der jeweiligen Grenzen sind eher unplausibel. Ein Konfidenzintervall von 4 % bis 67 % bedeutet, dass alle Werte innerhalb dieser Grenzen gleichermaßen plausibel sind! Aus statistischer Sicht ist damit jede Schlussfolgerung aus den Werten 44 % und 60 % Impfeffektivität hinfällig, weil diese beiden Werte jeweils innerhalb der Grenzen beider Konfidenzintervalle liegen. Das Ergebnis hätte genauso gut andersrum ausfallen können.
Studie 2 wird noch an einer weiteren Stelle vom RKI zitiert:
Erste Erkenntnisse zur Impfstoffwirksamkeit gegenüber der Omikronvariante zeigen darüber hinaus, dass ab etwa 15 Wochen nach der Grundimmunisierung (zwei Impfstoffdosen) die Wirksamkeit gegenüber symptomatischen Erkrankungen durch die Omikronvariante so stark reduziert ist (<20%), dass nicht mehr von einem ausreichenden Schutz vor Erkrankung ausgegangen werden kann (2, 4).
Tatsächlich liefert diese Studie Daten zur Impfeffektivität über die Zeit. Die vom RKI angeführte starke Reduktion der Wirksamkeit auf unter 20 % lässt sich z. B. in der folgenden Abbildung 1 erkennen (Figure 11b der Publikation, rote Markierung hinzugefügt):
Hier handelt es sich wohlgemerkt um die Abnahme des Immunschutzes durch die Impfung und nicht durch vorherige Infektion. Daten zu letzterem fehlen. Offenbar geht das RKI davon aus, dass die Schutzwirkung durch frühere Infektion der Schutzwirkung einer vollständigen Impfung gleichgesetzt werden kann, ohne jedoch diese Annahme durch Daten zu belegen. Außerdem wird auch nicht gezeigt, dass der Immunschutz nach der Boosterimpfung länger als drei Monate anhält. (Nach der Logik des RKI könnte man einen Impfdurchbruch nach vollständiger Impfung als Booster interpretieren.) Damit könnten die Daten aus Studie 2 theoretisch zwar als Argument für einen Genesenenstatus von drei Monaten dienen, keinesfalls jedoch für die Unterscheidung zwischen geimpften und nicht geimpften Genesenen!
Studie 3: Altarawneh et al. (2022)
Studie 3 führt das RKI als Beleg für folgende Aussage an:
In einer weiteren Studie, die die Schutzwirkung gegenüber Reinfektionen mit verschiedenen Virusvarianten verglich, hatten Genesene gegenüber Omikron-Reinfektionen nur einen Schutz von ca. 60%, während es gegenüber Delta-Reinfektionen mehr als 90% waren (3)
Wieder fehlt der notwendige Vergleich zu den geimpften Menschen. Man ist gezwungen, selbst in die Ergebnisse zu schauen:
Altarawneh et al. (2022) gehen einen methodisch etwas anderen Weg als die bislang behandelten Studien, da es ihnen primär um die Abschätzung der Schutzwirkung einer vorangegangenen Infektion geht. Die Tabelle zeigt die Ergebnisse von vier Auswertungen. In der Hauptanalyse A wird der Impfstatus ignoriert und die Schutzwirkung vorheriger Infektionen auf eine Infektion mit der Omikronvariante wird auf 56 % geschätzt. In der Analyse B wird der Einfluss des Impfstatus mit statistischen Mitteln aus den Daten eliminiert. Dies hat de facto keinen Einfluss auf die geschätzte Schutzwirkung (55,9 %). Werden geimpfte Personen komplett aus der Auswertung ausgeschlossen (C), beträgt die Schutzwirkung 61.9 %. Die vierte Analyse betrachtet die Schutzwirkung gegen schwere Infektionen und schätzt diese auf 87,8 %.
Wie das RKI richtigerweise sagt, zeigen die Daten von Altarawneh et al. (2022), dass die Schutzwirkung vor Infektion mit der Delta-Variante dagegen um die 90 % betrug. Aber wieso soll daraus folgen, dass der Genesenenstatus von nicht geimpften Menschen kürzer sein soll als der von geimpften Menschen? Und warum um gerade drei Monate? Es wurde gezeigt, dass die Schutzwirkung einer früheren Infektion gegenüber der Omikronvariante abgenommen hat. Das gleiche gilt für die Schutzwirkung der Impfung.
Unter dem Strich bleibt auch bei Studie 3 festzuhalten, dass die Dauer des Immunschutzes nicht untersucht wurde. Für eine Verkürzung des Genesenenstatus liefert sie damit keine Evidenz.
Studie 5: Gruell et al. (2022)
Die Laborstudie von Gruell et al. (2022) ist die einzige Studie, die einen Peer Review Prozess durchlaufen hat, d.h. sie wurde vor der Veröffentlichung von anderen Wissenschaftler*innen begutachtet. In dieser Studie wurden die Konzentration „neutralisierender Antikörper“ u.a. gegen die Omikronvariante gemessen. Die Proben kamen von jeweils 30 Personen, die entweder vollständig geimpft waren (zwei Dosen BNT162b2) oder die nicht geimpft waren.
Das RKI zitiert diese – und die beiden weiteren Laborstudien – als zusätzliche Evidenz für die oben bei Studie 3 schon angeführte Textstelle (keine Hervorhebung im Original):
In einer weiteren Studie, die die Schutzwirkung gegenüber Reinfektionen mit verschiedenen Virusvarianten verglich, hatten Genesene gegenüber Omikron-Reinfektionen nur einen Schutz von ca. 60%, während es gegenüber Delta-Reinfektionen mehr als 90% waren (3). Dies wird durch laborbasierte Studien unterstützt, die zeigen, dass Seren von Personen, die mit SARS-CoV-2 infiziert und nicht geimpft waren, eine deutlich verringerte Neutralisationsfähigkeit gegen Omikron (im Vergleich zum Wildtyp bzw. Delta-Variante) aufwiesen (5-7).
Wieder fällt sofort auf, dass das RKI den Vergleich zu den geimpften Personen weglässt. Die Autor*innen der Studie selbst tun dies natürlich nicht und fassen ihre Ergebnisse so zusammen (keine Hervorhebung im Original):
We report a near-complete lack of neutralizing activity against Omicron in polyclonal sera from individualsvaccinated with two doses of the BNT162b2 COVID-19 vaccine and from convalescent individuals [...]. However, mRNA booster immunizations in vaccinated and convalescent individuals resulted in a significant increase of serum neutralizing activity against Omicron.
Abbildung 2 veranschaulicht dieses Ergebnis auf der rechten Seite (gelbe Markierungen hinzugefügt):
Die Proben von vollständig geimpften und nicht geimpften Personen zeigen praktisch identische Antwortmuster. Nach diesen Daten hat die Booster-Impfung für die bereits geimpften Personen vergleichbare Wirkung wie die Erstimpfung für genesene Personen. (Als Randnotiz lässt sich aus den Daten bezüglich der Wuhan-Variante im linken Teil der Abbildung indirekt ablesen, dass die Antikörperkonzentration bei den Proben genesener Personen offenbar langsamer abnimmt, da die Vergleichszeiträume sich zwischen den Gruppen unterscheiden.)
Studie 5 zeigt also, dass sowohl geimpfte als auch zuvor infizierte Personen wenig neutralisierende Antikörper gegen Omikron im Blut aufweisen. Wie soll dies eine Unterscheidung bezüglich der Dauer des Genesenenstatus begründen? Letztlich findet die Studie keine Unterschiede in Bezug auf ein nicht relevantes Kriterium. Zudem schreiben die Autor*innen selbst, dass der Zusammenhang zwischen der Serumkonzentration neutralisierender Antikörper und tatsächlichem Schutz vor Erkrankung nur theoretischer Natur ist: „However, higher levels of neutralizing serum activity might not necessarily prevent SARS-CoV-2 infection [...]“.
Studie 6: Schmidt et al. (2021)
Die Ergebnisse dieser Laborstudie sind mit denen von Gruell et al. (2022) vergleichbar:
Sie zeigen ebenfalls einen Anstieg der Konzentration neutralisierender Antikörper nach der Erstimpfung von zuvor infizierten Personen, bzw. nach der Boosterimpfung bei zweifach geimpften Personen. Dass sich aus diesem Ergebnis keine Differenzierungen bezüglich des Genesenenstatus ableiten lassen, wurde oben bereits festgestellt.
Studie 7: Roessler et al. (2021)
Studie 7 glänzt zunächst als Publikation des renommierten New England Journal auf Medicine. Tatsächlich handelt es sich um einen „Letter to the Editor“, d.h. einen kurzen Bericht ohne Peer Review (Begutachtungsprozess). Methodik und Ergebnisse ähneln denen von Gruell et al. (2022) und Schmidt et al. (2021). Gefunden wurde, dass die Konzentration neutralisierender Antikörper gegen die Omikronvariante geringer ist als gegen frühere Varianten. Auch hier zeigt sich dieser Effekt bei geimpften wie auch bei genesenen Personen. Eine Erklärung für die vom RKI empfohlene Dauer des Genesenenstatus ergibt sich daraus nicht.
Zusammenschau und Fazit
Die bisherige Analyse hat dargelegt, dass die Argumentation des RKI wissenschaftlich nicht nachvollziehbar ist. Keine der angeführten Studien liefert einen empirischen Beleg dafür, dass der Immunschutz genesener nicht geimpften Menschen ein kürzeres Verfallsdatum haben sollte als der Immunschutz genesener geimpfter Menschen.
Es gibt darüber hinaus jedoch noch einen weiteren allgemeinen Grund, warum die Begründung des RKI unwissenschaftlich ist. Wissenschaftliches Arbeiten verlangt die Einbeziehung aller vorhandenen Evidenz zu einem Sachverhalt. Das neutrale Abwägen von Für und Wider ist ein zentrales Kennzeichen von Wissenschaftlichkeit. Das RKI betreibt dagegen reine Rosinenpickerei. Es präsentiert ausschließlich Studien, die vorgeblich (und falsch) die gewünschte Schlussfolgerung unterstützen und es unterschlägt jedwede kritische Diskussion und Abwägung. Diese Vorgehensweise ist ganz klar nicht wissenschaftlich und die Überschrift „Wissenschaftliche Begründung“ ist damit irreführend. Wenn es darum geht, die Freiheitsrechte von verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark zu beschränken, sollte man erwarten dürfen, dass die Begründung den höchstmöglichen wissenschaftlichen Standards entspricht. Das Schriftstück des RKI tut dies nicht und erscheint daher bereits aus formellen Gründen eher wie eine pseudowissenschaftliche Rechtfertigung einer politischen Agenda. In hartem Kontrast dazu heißt es im Leitbild des RKI:
Wir arbeiten eigenverantwortlich, unabhängig und transparent. [...] Wir legen großen Wert darauf, die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis einzuhalten [...].
Eine unabhängige und transparent arbeitenden Organisation hätte alle verfügbare Evidenz kritisch vorgestellt und diskutiert. Entscheidungen auf Basis dieser Evidenz wären dann Sache der Politik. Hier scheint umgekehrt eine politische Entscheidung die Basis für die gelieferte Evidenz zu sein – wie bereits u.a. bei den Empfehlungen zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung und der Impfung von Kindern ab 12 Jahren.
In der Wissenschaft bezeichnet man die gesammelten Erkenntnisse zu einem Sachverhalt gern als „Body of evidence“. Mit seiner einseitigen Darstellung repräsentiert das RKI hingegen eher einen „Antibody of evidence“. ❖