Gemeinsam gegen Konsens

Verfasst am 30.03.2021

Der Eindruck mag täuschen, aber seit einiger Zeit stoße ich vermehrt auf Meinungsäußerungen, die „wissenschaftlichen Konsens“ zu ihrer Untermauerung anführen. Dieser floskelartigen Verwendung scheint eine – aus meiner Sicht – grundsätzlich falsche Vorstellung von wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn zugrunde zu liegen. Dazu kommt, dass die Floskel zunehmend als Totschlagargument eingesetzt zu werden scheint. Du bist entweder auf der Seite des guten, richtigen und einzig wahren „wissenschaftlichen Konsens“ oder Du bist ein einfältiges Opfer böser Desinformationskampagnen. Vielleicht bist Du sogar Täter!

Der folgende Text beschäftigt sich zunächst mit einigen Gedanken zum Wert von Konsens in der Wissenschaft. Im Kontrast zu den Pauschalurteilen, für die der wissenschaftliche Konsens oft herangezogen wird, werden anschließend spezifische Kritikpunkte an der Impfstudie von Pfizer/BioNTech aufgeführt und begründet. Dies soll keinesfalls ein Plädoyer für oder gegen Impfungen sein! Es geht mir nicht um eine bestimmte Meinung, sondern um die Möglichkeit einer differenzierten Meinungsbildung.

Beispiele

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) schrieb am 12.02.2021 unter der Überschrift „Lügen über Covid-19: Wie Facebook die Impfokalypse [sic] verhindern will“ [1]:

„Mittlerweile ist es wissenschaftlicher Konsens, dass Masken ein wichtiger Bestandteil im Kampf gegen die Pandemie sind, doch nach wie vor herrscht nicht in allen Ländern eine Maskenpflicht.“

Und an späterer Stelle:

„Impfungen sind eine der wichtigsten Errungenschaften der Wissenschaft. Sie retten jedes Jahr Millionen Leben, etliche schwere Krankheiten konnten zurückgedrängt werden. Expertinnen und Experten warnen seit Monaten, dass gezielte Desinformation die Bereitschaft senken könnte, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen.“

Journalist*innen haben die Aufgabe, komplexe Sachverhalte für ihre Leserschaft verdaubar zu machen, aber die undifferenzierte Art und Weise mit der hier die Wirklichkeit vereinfacht wird, vermittelt den Eindruck einer politischen Agenda.

Zur Schutzwirkung von Masken habe ich an anderer Stelle bereits im Einzelnen dargestellt, dass die Neubewertung der Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum durch das Robert-Koch-Institut (RKI) auf äußerst zweifelhafter Grundlage erfolgte. Hier wird ein Konsens beschworen, der in Talkshows mit ausgewählten Gästen existieren mag. In der wissenschaftlichen Literatur existiert er nicht. Die zweite zitierte Passage impliziert (im Kontext des Artikels), dass Kritik an der Covid-19 Impfung Desinformation ist, weil ja Impfungen grundsätzlich gut seien. Das ist nicht nur logischer Unsinn, sondern auch perfide, da es selbstverständlich berechtigte Fragen und Kritikpunkte zur Covid-19 Impfung gibt. Durch Kritik im Einzelfall werden ja nicht automatisch „wichtigste Errungenschaften der Wissenschaft“ grundsätzlich infrage gestellt.

Ein weiterer Aspekt ist die Anwendung sehr bedenklicher Doppelstandards, die oftmals mit der Verwendung der Konsensfloskel einhergehen. Beispielsweise verbietet YouTube mit Verweis auf den wissenschaftlichen Konsens „medizinische Fehlinformationen über COVID-19“ [2]. Nicht erlaubt sind etwa:

„Behauptungen, dass der Impfstoff gegen COVID-19 [...] anfälliger für die Ansteckung mit anderen Infektionskrankheiten macht“

Inhaltlich kann ich diese Aussage nicht bewerten. Ich würde aufgrund der Tatsache, dass die Impfstoffe erst seit kurzer Zeit angewendet werden, vermuten, dass es hierzu wenig aussagekräftige Daten gibt. Es gibt allerdings aus dem selben Grund auch hinsichtlich möglicher Langzeitnebenwirkungen überhaupt keine Daten. Trotzdem ist es ganz offensichtlich erlaubt, die Impfstoffe als gut verträglich zu bezeichnen.

Konsensparadoxon

◆ Wissenschaft lebt von Meinungsverschiedenheiten. ◆ Auch etablierte Theorien werden regelmäßig verworfen. ◆ „Wissenschaftlicher Konsens“ ist eine politische Floskel. ◆

Nach meinem Verständnis ist die treibende Kraft in der Wissenschaft nicht der Konsens sondern der Dissens. Nicht die hundertste Bestätigung, sondern die Widerlegung einer Aussage schafft neues Wissen. Zugespitzt formuliert: Wenn unser Wissen über die Welt durch sogenannten wissenschaftlichen Konsens bestimmt würde, stünde in unseren aktuellen Lehrbüchern zum Beispiel noch:

und so weiter, und so weiter.

Es liegt möglicherweise in der Natur des Menschen, dass wir uns für grundlegend schlauer als unsere Vorfahren halten. Wir belächeln heute die Vorstellung, dass die Sonne um die Erde kreist, aber im damaligen Kontext war dies eine Theorie, die auf Beobachtungen beruhte. Sicherlich waren ihre Verfechter*innen auch nicht prinzipiell dümmer als wir. Ihr Konsens war ebenso kein wissenschaftlich gültiges Argument für die Richtigkeit ihrer Annahmen, wie es heutiger Konsens für die unseren ist. Die Annahme, dass das Erbgut – abgesehen von Mutationen – unveränderlich sei, ist erst vor relativ kurzer Zeit durch Forschung zu Epigenetik und Retroviren ins Wanken geraten.

Jede neue Entdeckung zeigt, dass das bestehende Wissen jederzeit durch eine bessere Erklärung über den Haufen geworfen werden kann.

Konsens kann ein politisch erstrebenswerter Zustand sein. Aber bedeutet Konsens für die Wissenschaft nicht Stillstand? Wenn etablierte Theorien nicht mehr hinterfragt werden, wie soll es dann noch Fortschritt in der Theoriebildung geben? Absoluter Konsens erscheint mir nur dann akzeptabel, wenn das Wissen zu einem gegebenen Bereich vollständig ist. Solange aber eine Theorie die Wirklichkeit nicht vollständig erklären kann, muss die Theorie weiter angegriffen werden. Über diesen Sachverhalt sollte wissenschaftlicher Konsens bestehen. Ein Konsensparadoxon!

Wenn die Wissenschaft also ihrem Wesen nach nicht auf Konsens, sondern auf Dissens aufbaut, darf vermutet werden, dass öffentliche Beschwörungen von wissenschaftlichem Konsens in der Regel politisch motiviert sind. Man möchte seine Meinung begründen und beruft sich auf eine tatsächliche oder angebliche Mehrheit von Wissenschaftler*innen, die diese Meinung teilen. Daran ist eigentlich nichts auszusetzen. Wenn allerdings der Wunsch, Konsens zu erzeugen, so groß ist, dass die abweichende Evidenz nicht mehr wahrgenommen wird, halte ich das für sehr problematisch.

Wissenschaftliche Argumentationen basieren auf Evidenz, nicht Konsens [3].

Eine wissenschaftliche Studie ist nicht deswegen besser als eine andere, weil mehr Leute applaudieren, sondern weil sie – nach wissenschaftlichen Kriterien beurteilt – die belastbarere Evidenz liefert. Das Geschäft von Politiker*innen mag es dann sein, wissenschaftliche Ergebnisse für ihre Argumentationen zu verwenden. Die Aufgabe von Wissenschaftler*innen ist es, die Ergebnisse weiter zu hinterfragen.

Die Pfizer/BioNTech-Studie

◆ Die berichtete Effektivität wird nicht in Bezug zur niedrigen Infektionsrate gesetzt. ◆ Schwächen im Studiendesign könnten zu einer Überschätzung der Effektivität geführt haben. ◆ Die Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe und der Virusweitergabe wurden nicht untersucht. ◆

Der erste zugelassene Impfstoff gegen Covid-19 war BNT162b2 von Pfizer/BioNTech. Seine Zulassung erfolgte aufgrund der positiven Bewertung der entsprechenden klinischen Studie durch die jeweiligen Regulierungsbehörden. Das Studienprotokoll [4], ein Informationsdokument der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA vom 10.12.2020 [5] und ein Fachartikel vom 31.12.2020 [6] bilden die Grundlage für die weitere Darstellung. Die Empfehlung zur Zulassung auf EU-Ebene durch die EMA erfolgte am 21.12.2020 [7].

Mindestens zwei Gründe machen es besonders interessant, sich diese wegweisende klinische Studie unter methodischen Gesichtspunkten genauer anzuschauen [8]:

(1) Die angeführte Effektivität des Impfstoffs wird entgegen Empfehlungen evidenz-basierter Medizin in „unangemessen beeinflussender Weise“ präsentiert.

Die Darstellung der Effektivität als relative Risikoreduktion von 95 % wirkt natürlich deutlich beeindruckender als die absolute Risikoreduktion von 0.8 %.

(2) Eindeutige Schwächen der Studie erscheinen im öffentlichen Diskurs geradezu grotesk unterrepräsentiert.

Methodisch berechtigte Kritikpunkte werden in einem Topf mit esoterischen Extremen verrührt und als ungenießbare Verschwörungssuppe weg gegossen.

Zusätzlich ist bemerkenswert, dass bereits einen Monat vor Veröffentlichung der Ergebnisse eine Liefervereinbarung mit der EU abgeschlossen wurde [9]. Die Ergebnisse müssen also offensichtlich auch ohne öffentliche Diskussion „konsensfähig“ gewesen sein.

Was wurde gemacht?

Was wurde nicht gemacht?

Die folgenden Hauptergebnisse zur Effektivität wurden der Öffentlichkeit im New England Journal of Medicine vorgestellt [6]. Sie bildeten vermutlich die Grundlage für die meisten Medienberichte.

Welche Hauptergebnisse wurden präsentiert?

Welche Ergebnisse wurden nicht präsentiert?

Hier die Hauptergebnisse visuell veranschaulicht:

Abbildung: Die Pfizer/BioNTech Studienergebnisse im Überblick (Placebogruppe links, Impfgruppe rechts). Jedes Kästchen symbolisiert einen Fall. Farbige Kästchen sind Test-positiv, die roten Fälle markieren schwere Erkrankungen.

Wie man sofort sieht, treten positive Fälle im Beobachtungszeitraum insgesamt selten auf. Diese wichtige Information wird unterschlagen, wenn nur die relative Risikoreduktion als Maß der Effektivität berichtet wird [10].

Für die individuelle Bewertung spielen sowohl die Schwere einer Erkrankung als auch ihre Häufigkeit eine Rolle.

Ein und dieselbe relative Risikoreduktion wird bei einer milden, sehr seltenen Erkrankung anderes Gewicht haben, als bei einer schweren, sehr häufigen Erkrankung. Die FDA-Richtlinien fordern daher in eindeutigen Worten:

”Provide absolute risks, not just relative risks. Patients are unduly influenced when risk information is presented using a relative risk approach; this can result in suboptimal decisions. Thus, an absolute risk format should be used.“ [11]

Durch die Verwendung relativer Risiken werden demnach Patient*innen in ihrer Entscheidung „unangemessen beeinflusst“ (unduly influenced). Trotzdem wird die Wirksamkeit der Impfstoffe überwiegend als relative Risikoreduktion berichtet. Das RKI schreibt etwa in seinen FAQ [12]: „Nach derzeitigem Kenntnisstand bieten die COVID-19-mRNA-Impfstoffe [...] eine hohe Wirksamkeit von bis zu 95 %.“

Es fehlt der Hinweis, dass die absolute Risikoreduktion nur 0,84 % betrug.

Für eine faire Beurteilung sollte man beide Effektivitätsmaße berichten und die Unterschiede erklären.

Eine verzerrte Wahrnehmung von Risiken bezüglich Covid-19 ist bereits weit verbreitet. So gaben im August vergangenen Jahres 30 % der Befragten in einer Studie in den Vereinigten Staaten an, dass sie befürchteten, in den kommenden drei Monaten an Covid-19 zu erkranken. Die Wahrscheinlichkeit einer ernsten Erkrankung im Falle einer Infektion schätzten die Befragten auf 35 % [13]. Ein Blick auf die offiziellen Statistiken und die obige Abbildung zeigt, dass diese subjektiven Einschätzungen die empirisch ermittelten Risiken massiv überschätzen.

Die gesteigerte Furcht vor einer eigenen Erkrankung trifft somit auf eine tendenziell überhöhte Erwartung über die Wirkung der Impfung. Aus Sicht paternalistischer Staatslenker, die davon ausgehen, dass sie allein die Weisheit und Weitsicht besitzen, gute Entscheidungen für ihr Volk zu treffen, ist dies vielleicht wünschenswert. Lässt sich doch so die Impfbereitschaft steigern. Diejenigen aber, die sich gern eine fundierte eigene Meinung bilden wollen, müssen diese verzerrte Informationslandschaft aktiv überwinden. Schauen wir also exemplarisch auf einige Schwächen der Pfizer/BioNTech-Studie.

Entblindung

Die Prüfärzt*innen waren gemäß Protokoll nicht blind gegenüber der Intervention. Weiterhin kann man vermuten, dass zumindest ein Teil der Kontrollgruppe wegen des Ausbleibens lokaler Gewebereaktionen den plausiblen Verdacht gehabt haben könnte, die Placebo-Injektionen erhalten zu haben. Warum ist eine unzureichende Verblindung in dieser Studie potenziell problematisch?

Da das Studienprotokoll das Erreichen des primären Endpunktes (also der Virusnachweis mittels PCR-Test) davon abhängig macht, dass die Teilnehmer*innen Erkrankungssymptome selbst im Studienzentrum melden, könnten verschiedene subjektive Bewertungsmaßstäbe zu unterschiedlichem Meldeverhalten geführt haben.

Dabei spielen subjektive Einschätzungen auf Seiten der Patient*innen und auf Seite der Prüfärzt*innen eine Rolle.

Zunächst beurteilen die Teilnehmer*innen, ob die Symptome, die sie bei sich bei sich beobachten, die Kriterien für eine notwendige Meldung nach Protokoll erfordern. Hier wäre es denkbar, dass Teilnehmer*innen, die vermuteten, zur Kontrollgruppe zu gehören, sich mit höherer Wahrscheinlichkeit meldeten und es so zu einer höheren Nachweisquote gekommen sein könnte. Ein Klima übersteigerter Furcht vor einer Infektion (s.o.) würde einen solchen Effekt antreiben. Die etwas höhere Anzahl von Verdachtsfällen in der Kontrollgruppe (1.816) gegenüber der Impfgruppe (1.594) könnte ein Hinweis darauf sein, dass Teilnehmer*innen der Kontrollgruppe sich tatsächlich häufiger mit Symptomen im jeweiligen Studienzentrum gemeldet hatten. In einem Vergleich von klinischen Studien mit und ohne Verblindung der Probanden wurde gefunden, dass die gemessenen Effekte in Studien ohne Verblindung durchschnittlich 112 % größer ausfielen [14]. Ergebnisverzerrungen durch Entblindung können erheblich sein.

Im zweiten Schritt der Meldeprozedur beurteilen die Prüfärzt*innen, ob eine Infektion stattgefunden hat oder nicht. Da diese Abschätzung auch fernmündlich per Telefon oder Videokonferenz stattfinden konnte, ist nicht auszuschließen, dass es auch hier zu systematischen Verzerrungen gekommen sein könnte. Teilnehmer*innen, von den man wusste, dass sie den Impfstoff erhalten hatten, könnte zum Beispiel häufiger empfohlen worden sein, die Symptome erst ein Mal weiter zu beobachten, während Teilnehmer*innen der Kontrollgruppen möglicherweise häufiger direkt getestet wurden. Es ist bekannt, dass der überwiegende Teil der Infektionen mit milden Verläufen einhergeht. Daher könnte das Risiko der Impfgruppe unterschätzt worden sein, weil durch ein konservativeres (d.h. zögerlicheres) Meldeverhalten mehr Infektionen unentdeckt geblieben sein könnten. Weil positive Fälle insgesamt sehr selten sind, könnten schon geringfügige Verzerrungen einen deutlichen Einfluss auf die geschätzte Effektivität gehabt haben. Diese Argumentationskette ist spekulativ, aber sie ist wissenschaftlich gültig. Entscheidend ist, dass das Studiendesign diese Spekulationen zulässt. (Aus forschungsmethodischer Sicht liegt eine sogenannte Konfundierung vor.) Der Sponsor der Studie ist deshalb in der Bringschuld, die berechtigte Kritik möglichst evidenzbasiert zu entkräften.

Endpunkte

Der durch subjektive Einschätzungen verzerrbare primäre Endpunkt wirft weitere Fragen auf.

Warum wurde auf routinemäßige PCR-Testungen während der Nachkontrolltermine und auf eine immunologische Analyse der gesammelten Blutproben verzichtet?

(Die grundsätzliche Aussagekraft von PCR-Tests soll an dieser Stelle nicht zur Debatte stehen.) Das Argument, dass diese zusätzlichen Analysen zu aufwendig gewesen wären, kann vor dem Hintergrund der viel beschworenen Wichtigkeit der Impfung kaum überzeugen. Gemessen an der Anzahl weltweit täglich durchgeführter Tests und des immensen Schadens, den die Krise bislang verursacht hat, ist nicht nachvollziehbar, warum hier die Chance vertan wurde, belastbarere Daten zu erheben.

Weiterhin kann hinterfragt werden, warum die Studie nicht Endpunkten untersucht hat, die die Erwartungen an den Impfstoff besser widerspiegeln. Untersucht wurde die Verhinderung von überwiegend leichten Covid-19 Erkrankungen. Leichte Krankheitsverläufe stellen aber an sich weder auf individueller noch auf gesellschaftlicher Ebene ein ernstes Problem dar. Wichtiger wären (1) die Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe, um die Gesundheitssysteme nicht zum Kollaps zu bringen und (2) die Verhinderung der Verbreitung des Virus. Zu beiden Punkten liefert die Studie keine direkten Antworten. Schwere Krankheitsverläufe sind mit vier Fällen in der Kontrollgruppe und einem Fall in der Impfgruppe zu selten, um belastbare Aussagen zu treffen. Ob geimpfte Personen das Virus weitergeben können, wurde nicht untersucht.

Die Impfstoffentwicklung wurde in beträchtlicher Höhe mit öffentlichen Mitteln unterstützt und es ist eher nicht zu befürchten, dass die Hersteller unter dem Strich ein Minusgeschäft machen werden. Da eine höhere Aussagekraft der Daten im allgemeinen Interesse gewesen wäre, ist nicht einzusehen, warum die Zulassungsbehörden nicht auf entsprechenden Auflagen bestanden haben.

Ausgeschlossene Fälle

Wegen nicht weiter erklärten Protokollverstößen wurden 311 Teilnehmer*innen aus der Impfgruppe und 61 aus der Kontrollgruppe aus der Studie ausgeschlossen. Angesichts der insgesamt geringen Anzahl positiver Fälle, sind diese Ausschlüsse erklärungsbedürftig, da bereits kleine Verzerrungen bedeutsame Auswirkungen auf die Gesamtinterpretation haben könnten.

Aktives, aufgeschlossenes Denken

◆ Man muss nicht einer Meinung sein. ◆ Die Richtigkeit von Entscheidungen wird oft überschätzt. ◆Die Berücksichtigung anderer Meinungen verbessert Entscheidungen. ◆

Jede empirische Studie hat Schwächen. Es gehört zum wissenschaftlichen Tagesgeschäft, Studien anderer zu kritisieren und die eigenen Studien gegen Kritik zu verteidigen. Dies geschieht aber immer mit direktem Bezug zur präsentierten Evidenz. In diesem Sinne habe ich spezifische Schwachstellen der Studie von Pfizer/BioNTech beschrieben, die aus meiner Sicht die Interpretierbarkeit der Ergebnisse einschränken. Hier kann man vollkommen legitim zu einer anderen Einschätzung kommen. Von Bedeutung ist dabei nur, dass die eigene Einschätzung auf Basis der Evidenz getroffen wird und nicht auf der Basis von Konsens. Gerade in der Psychologie weiß man, dass Konsens im sozialen Kontext kein Garant für gute Entscheidungen ist und dass Gruppendenken (Groupthink) die Qualität von Gruppenentscheidungen katastrophal verschlechtern kann. Konsens entsteht nicht zwangsläufig durch Evidenz [3].

Politische, wirtschaftliche und persönliche Interessen können auf den Konsens Einfluss nehmen.

Wissenschaftler*innen leben nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum . Wie alle Menschen haben sie eigene Interessen und sie navigieren ihr Leben durch die Strömungen und Turbulenzen, die von den Interessen anderer erzeugt werden.

Soll gemeinsam gegen Konsens also bedeuten, dass Politik und Gesellschaft nicht mehr durch die Wissenschaft informiert werden können? – Selbstverständlich soll es das nicht. Allerdings sollte die Vorstellung aufgegeben werden, dass die Wissenschaft eine Meinung vertreten muss. Es sollte auch keine fiktive Einheitsmeinung herbeigeredet oder -geschrieben werden. Es wäre schön, wenn die dadurch entstehenden Unsicherheiten zugemutet werden dürften. Eigentlich weiß jeder von uns, dass man mit seinen Entscheidungen in komplexen Problemsituationen daneben liegen kann. Warum also so tun, als würde das für andere nicht gelten? Ein entspannterer Umgang mit abweichenden Ansichten und ein Verzicht auf unnötige Verallgemeinerungen wären zu begrüßen. Die Forschung im Bereich Denken und Entscheiden hat vielfach demonstriert, dass Menschen oft dazu neigen, die Richtigkeit der eigenen Entscheidungen und die von „Experten“ tendenziell zu überschätzen. Daraus lässt sich ableiten, dass weniger Vertrauen häufig durchaus angebracht ist. Zudem kann man annehmen, dass bessere Entscheidungen getroffen werden, wenn alternative Erklärungen und Ziele grundsätzlich mit in Betracht gezogen werden. Aspekte wie diese lassen sich in einem kognitiven Denkstil bündeln, der auch als aktiv aufgeschlossenes Denken bezeichnet wird (active open-minded thinking, [15]).

Ein aktiv aufgeschlossener Denkstil ist auch nützlich, wenn man auf die Expertise anderer angewiesen ist.

Häufig kann man sich auch bei anderen einen Eindruck davon verschaffen, in welchem Ausmaß sie alternative Ansichten berücksichtigen. Wenn jemand eine andere Meinung allein aufgrund ihrer Abweichung vom Konsens von der Betrachtung ausschließt, ist das sicher kein Hinweis für aktiv aufgeschlossenes Denken. Wenn – wie im Beispiel der oben geschilderten YouTube Zensur – eine Institution die öffentliche Abweichung vom Konsens untersagt, wird eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema sogar aktiv verhindert. Nach meinem Dafürhalten kann das nicht im Interesse einer offenen Wissensgesellschaft sein. Man muss nicht einer Meinung sein, aber man sollte die Argumente anderer berücksichtigen und wertschätzen. Dazu muss man sie jedoch kennen. ❖


Quellen

[1] https://www.sueddeutsche.de/digital/facebook-corona-impfung-desinformation-1.5202750

[2] https://support.google.com/youtube/answer/9891785?hl=de

[3] Socol, Y., Shaki, Y. Y., & Yanovskiy, M. (2019). Interests, Bias, and Consensus in Science and Regulation. Dose-Response, 17(2), 1559325819853669. https://doi.org/10.1177/1559325819853669

[4] https://pfe-pfizercom-d8-prod.s3.amazonaws.com/2020-09/C4591001_Clinical_Protocol.pdf

[5] https://www.fda.gov/media/144245/download

[6] Polack, F. P., Thomas, S. J., Kitchin, N., Absalon, J., Gurtman, A., Lockhart, S., Perez, J. L., Pérez Marc, G., Moreira, E. D., Zerbini, C., Bailey, R., Swanson, K. A., Roychoudhury, S., Koury, K., Li, P., Kalina, W. V., Cooper, D., Frenck, R. W., Hammitt, L. L., … Gruber, W. C. (2020). Safety and Efficacy of the BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine. New England Journal of Medicine, 383(27), 2603–2615. https://doi.org/10.1056/NEJMoa2034577

[7] https://www.ema.europa.eu/en/news/ema-recommends-first-covid-19-vaccine-authorisation-eu

[8] Doshi, P. (2020). Pfizer and Moderna’s “95% effective” vaccines—let’s be cautious and first see the full data. https://blogs.bmj.com/bmj/2020/11/26/peter-doshi-pfizer-and-modernas-95-effective-vaccines-lets-be-cautious-and-first-see-the-full-data/

[9] https://www.tagesschau.de/ausland/eu-corona-impfstoff-103.html

[10] Brown, R. B. (2021). Outcome Reporting Bias in COVID-19 mRNA Vaccine Clinical Trials. Medicina (Kaunas, Lithuania), 57(3). https://doi.org/10.3390/medicina57030199

[11] https://www.fda.gov/media/81597/download

[12] https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html

[13] https://www.riskandsocialpolicy.org/s/FINAL_techreport_wave2.pdf

[14] Hróbjartsson, A., Emanuelsson, F., Skou Thomsen, A. S., Hilden, J., & Brorson, S. (2014). Bias due to lack of patient blinding in clinical trials. A systematic review of trials randomizing patients to blind and nonblind sub-studies. International Journal of Epidemiology, 43(4), 1272–1283. https://doi.org/10.1093/ije/dyu115

[15] Baron, J. (2019). Actively open-minded thinking in politics. Cognition, 188, 8–18. https://doi.org/10.1016/j.cognition.2018.10.004