Vorwort
Vor Facebook, Rundfunk und Buchdruck wurde Wissen im Wesentlichen direkt von Mensch zu Mensch weitergegeben. Über einen zerstörerischen Brand in der Nachbarsiedlung erfuhr man nur durch eigene Beobachtungen oder durch Erzählungen. Über Ereignisse außerhalb des unittelbaren eigenen Umfelds erfuhr man in der Regel gar nichts und wenn, dann nur mit erheblicher Zeitverzögerung. Heute kann der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Donald Trump täglich bis zu 36 unwahre Aussagen in Echtzeit an Abermillionen Menschen senden, die diese „Fake News“ ihrerseits in Sekundenbruchteilen weiterverbreiten können [1]. Die technische Entwicklung der Massenmedien in der jüngeren Menschheitsgeschichte verlief rasant. Die biologische „Hardware“ mit der wir heute Wissen erwerben – unser Gehirn –, unterscheidet sich jedoch kaum von der unserer Vorfahren, die durch Gesten und Grunzen mitteilten, wo sich essbare Pflanzen und gefährliche Tiere befanden. Ein Neandertaler, der 36 Mal am Tag die Mitglieder seiner Gruppe belog, hatte in einer Zeit, in der Kooperation überlebenswichtig war, vermutlich schlechte Karten. Die Prinzipien nach denen unser Gehirn arbeitet, haben sich in den letzten 100 Jahren nicht verändert. Unsere mediale Umwelt ist dagegen eine grundlegend andere. Um die Konsequenzen dieser Diskrepanz besser begreifen zu können, müssen wir verstehen, wie Menschen lernen und wie das Gedächtnis funktioniert.
Die modernen Massenmedien ermöglichen uns heute ein immenses aktuelles und historisches Wissen über die Welt, auf der wir leben. So können wir beispielsweise erfahren:
- Über Hiroshima und Nagasaki wurden Atombomben gezündet.
- Die Wolga ist der längste Fluss Europas.
- Angela Merkel wurde bereits vier Mal zur Bundeskanzlerin gewählt.
Und weiterhin:
- Die gierigen Griechen brauchen noch mehr Finanzhilfen.
- Russland hat die Krim völkerrechtswidrig annektiert.
- Der Fachkräftemangel bedroht die deutsche Wirtschaft.
Die ersten drei Aussagen informieren über bestimmte Ereignisse und Sachverhalte. Es geht um „reine Fakten“, die wir aufnehmen, im Gedächtnis abspeichern und womöglich wieder vergessen. Bei den letzten drei Beispiele ist die Faktenlage dagegen weniger eindeutig. Hier gibt es verschiedene Ansichten, die mit unterschiedlichen Argumenten untermauert werden können. Die jeweiligen Aussagen stellen somit eine Vermischung von Fakten, Wertungen und Meinungen dar. Wie beeinflussen solche Aussagen unser Wissen und damit unsere eigene Meinungsbildung? Wenn wir einen denkenden Roboter bauen wollten, würden wir ihn vermutlich so programmieren, dass er zunächst analysiert, welche Teile der Aussagen Fakten und welche Teile eher Meinungen sind. Er würde dann Sachinformationen und Wertungen getrennt voneinander abspeichern und auswerten können. Seine Entscheidung würde auf Basis der Fakten getroffen werden. Unser Roboter würde sich als Konsequenz seiner Analyse der in der Nachricht vertretenen Position anschließen oder sie ablehnen. Im Verlauf dieses Blogs werden wir sehen, dass die menschliche Meinungsbildung in der Regel grundlegend anders verläuft. Das Trennen von Fakten und Meinungen ist in unser Software im Alltagsbetrieb nicht vorgesehen.
Die Basis unserer Meinungsbildung ist unser Gedächtnis. Jede Information „von außen“ muss zunächst in unser bestehendes Wissen einsortiert werden. Hier zeigt sich bereits ein ganz entscheidender Unterschied zu unserem Roboter: Wir speichern immer nur einen Bruchteil der Informationen, die wir aufnehmen. Ein einfacher Selbstversuch mit einer beliebigen Nachrichtensendung oder Zeitung zeigt, dass wir augenscheinlich die allermeisten Informationen sehr schnell wieder vergessen. Ich habe beispielsweise vor etwa zwei Stunden die Lokalzeitung gelesen und erinnere mich jetzt spontan nur an einen einzigen Artikel. (Studien zeigen, dass diese Leistung unterdurchschnittlich ist...) Tatsächlich handelt es sich dabei auch noch um die Titelgeschichte auf Seite 1, auf die mich meine Frau vorab aufmerksam gemacht hatte. Bedeutet die Tatsache, dass ich mich an die übrigen Artikel nicht erinnere, dass meine Meinung zu den vergessenen Ereignissen und Personen, unbeeinflusst geblieben ist? Die Antwort ist ein klares Nein. Eine Meldung kann mich in meiner Meinung über Donald Trump bestärkt haben, obwohl ich mich an die Meldung selbst gar nicht mehr erinnere. Ich habe die Einzelheiten der Meldung nicht abgespeichert, aber meine bestehende Ansicht wurde verfestigt. Diese Wirkung ist für mich vollkommen unbewusst. Dass ich auf verschiedenen Wegen beeinflussbar bin, ohne es zu merken, ist eine unmittelbare Folge der Funktionsweise des Gehirns.
Dieser Blog verknüpft Beobachtungen der aktuellen Medienlandschaft mit Erkenntnissen der wissenschaftlichen Psychologie. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der sogenannten kognitiven Psychologie, die sich unter anderem damit beschäftigt, wie unsere Aufmerksamkeit gesteuert wird, wie unser Gedächtnis funktioniert und wie wir denken. Die kognitive Psychologie betrachtet den Menschen vor allem als ein informationsverarbeitendes Wesen. Diese Sichtweise betont, dass Menschen Informationen aufnehmen, weiterverarbeiten, speichern und für Handlungen nutzen. Im Zusammenhang mit Massenmedien muss darüberhinaus beachtet werden, dass die Informationen, die wir verarbeiten, von anderen Menschen stammen. Es geht also um Kommunikation zwischen Sendern und Empfängern von Botschaften sowie die Frage, wie Menschen durch Andere beeinflusst werden. Diese Aspekte der Kommunikations- und Sozialpsychologie werden hier ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.
Im weiten Feld der Massenmedien und Massenkommunikation wird sich dieser Blog in erster Linie mit der Wirkung von Nachrichten beschäftigen. Im Gegensatz Werbung oder Unterhaltungsmedien werden Nachrichtenmedien von den meisten Menschen in erster Linie als Informationsquellen angesehen. Nachrichten dienen damit als eine Hauptquelle für Wissen über diese Welt. Wenn wir also verstehen wollen, wie wir über die Welt nachdenken, lohnt sich ein vertiefter Blick darauf, welche Nachrichten wir konsumieren und wie unser Gehirn sie verarbeitet. Dabei hängt der Lernerfolg selbstverständlich stark von der Qualität der Medien und der jeweiligen Nachrichtenauswahl der Redaktionen ab.
«If the [...] newspapers ever recorded history accurately and with any appreciation of the significance of the events occurring, they do it less now than heretofore, for now everything is so covered with the millinery of sensationalism that none but the wisest can detect the truth beneath.»
Dieses Zitat von John Gilmer Speed stammt aus dem Jahr 1893 [2]. Speed kritisierte den abnehmenden Informationsgehalt der Zeitungen und erkannte als Ursache die vorrangig kommerziellen Ziele der Eigentümer. Herman und Chomsky gingen vor gut 30 Jahren mit ihrem „Propaganda Modell“ noch einen Schritt weiter. Sie stellten die These auf, dass die Medien in unserer Gesellschaft vorwiegend die Aufgabe hätten, die bestehenden Machtverhältnisse zu stabilisieren [3]. Diese soziologischen und politischen Aspekte des Mediengeschäfts werden hier nicht vertiefend behandelt. Es steht aber außer Frage, dass die Motivation der Medienmacher ein zentraler Aspekt ist, der zu beachten ist. Die wahrgenommene Motivation des Senders hat selbstverständlich einen Einfluss auf die Interpretation seiner Botschaft. Wenn eine Freundin begeistert von ihrem neuen Kaffeeautomaten berichtet, wirkt das anders, als wenn George Cloony in einem Werbespot die gleiche Maschiene zärtlich anlächelt. Und wenn unser Lebenspartner wiederholt darauf hinweist, dass sich in der Küche das schmutzige Geschirr stapelt, verstehen wir natürlich, dass es hier nicht nur um die nüchterne Beschreibung eines Sachverhaltes geht.
In der direkten zwischenmenschlichem Kommunikation leuchtet es sofort ein, dass unser Gegenüber bestimmte Motivationen und Ziele hat und wir beziehen diese Einsicht in die Interpretation des Gesagten ein. Wir verstehen auch die Konsequenzen, die entstehen können, wenn diese Motivation falsch gedeutet oder ignoriert wird. Bei Nachrichtenmedien sind wir dagegen leicht geneigt, ihre Ziele im Sinne einer unabhängigen „Vierten Säule“ des Rechtstaates pauschal zu akzeptieren. Wir gehen einfach davon aus, dass Medienhäuser über das Weltgeschehen berichten, weil dies nun mal ihre Aufgabe ist. Diese Verallgemeinerung stellt gewissermaßen eine gedankliche Abkürzung dar. Sie erspart es uns, bei jeder einzelnen Nachricht nach dem Warum der Nachricht zu fragen. Solche Abkürzungen und Verallgemeinerungen sind typisch für die menschliche Informationsverarbeitung. Wir sind sozusagen im Alltag denkfaul.
Ziel dieses Blogs ist es, psychologische Erkenntnisse über grundlegende Wirkmechanismen von medialen Lernprozessen zu vermitteln. Dabei liegt die Überzeugung zugrunde, dass die freie Meinungsbildung heute in hohem Maße Aufmerksamkeit, spezifische Medienkompetenzen und allgemeinem kritisches Denken erfordern. In diesem Sinn begegnen uns in der aktuellen Medienlandschaft zahlreiche Denkfouls – unfaire Verstöße gegen Meinungsvielfalt und Denkfreiheit. Dieses Projekt soll einen Beitrag dazu leisten, mediale Denkfouls zu erkennen und den Strafraum für die eigene Meinungsbildung zu verteidigen.
Quellen:
[1] https://www.theguardian.com/us-news/2019/jan/21/donald-trump-lies-factcheckers (last checked February 2020)
[2] Speed, J. G. (1893). Do Newspapers Now Give the News? The Forum, August 1893, pp. 705-711. Downloaded from https://www.unz.com/print/Forum-1893aug/ (February 2020)
[3] Herman, E. S. & Chomsky, N. (1988). Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media. New York: Pantheon Books.