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Steter Tropfen höhlt das Hirn

Vor Facebook, Rundfunk und Buchdruck wurde Wissen im Wesentlichen direkt von Mensch zu Mensch weitergegeben. Über einen zerstörerischen Brand in der Nachbarsiedlung erfuhr man nur durch eigene Beobachtungen oder durch Erzählungen. Über Ereignisse außerhalb des unittelbaren eigenen Umfelds erfuhr man in der Regel gar nichts und wenn, dann nur mit erheblicher Zeitverzögerung. Heute kann der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Donald Trump täglich bis zu 36 unwahre Aussagen in Echtzeit an Abermillionen Menschen senden, die diese „Fake News“ ihrerseits in Sekundenbruchteilen weiterverbreiten können [1]. Die technische Entwicklung der Massenmedien in der jüngeren Menschheitsgeschichte verlief rasant. Die biologische „Hardware“ mit der wir heute Wissen erwerben – unser Gehirn –, unterscheidet sich jedoch kaum von der unserer Vorfahren, die durch Gesten und Grunzen mitteilten, wo sich essbare Pflanzen und gefährliche Tiere befanden. Ein Neandertaler, der 36 Mal am Tag die Mitglieder seiner Gruppe belog, hatte in einer Zeit, in der Kooperation überlebenswichtig war, vermutlich schlechte Karten. Die Prinzipien nach denen unser Gehirn arbeitet, haben sich in den letzten 100 Jahren nicht verändert. Unsere mediale Umwelt ist dagegen eine grundlegend andere. Um die Konsequenzen dieser Diskrepanz besser begreifen zu können, müssen wir verstehen, wie Menschen lernen und wie das Gedächtnis funktioniert.

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1. Wiederholungen: Steter Tropfen höhlt den Stein

Wiederholungen spielen von Geburt an eine zentrale Rolle für viele Lernprozesse. Noch in Windeln haben wir gelernt, dass bestimmte Gesichter immer wieder vor uns auftauchen und häufig dieselben Laute von sich geben. Wir haben selbst immer wieder dieselben Laute gebrabbelt und Bewegungen wiederholt. Wir haben Vokabel solange erneut gelesen, gesprochen und aufgeschrieben, bis wir sie auswendig konnten. Parteien präsentieren uns vor jeder Wahl ihr Spitzenpersonal auf unzähligen Plakaten. Und allen Radiohörern, die nach den Verkehrsnachrichten nicht rechtzeitig abschalten, wird wieder und wieder eingebläut, welche Firma Steinschläge in der Windschutzscheibe repariert.

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1.1 Wiederholungen: Schneller

Im psychologischen Versuchslabor untersucht man die Wirkung von Wiederholungen oft in sogenannten Wiederholungspriming-Experimenten [2]. Priming kann mit Bahnung übersetzt werden. In einem typischen Bahnungsexperiment werden Versuchspersonen beispielsweise am Computer nacheinander Bilder von Tieren und Alltagsgegenständen gezeigt. Bei jedem Bild sollen die Versuchspersonen dann eine Kategorisierungsaufgabe durchführen. Man fragt etwa danach, ob ein Bild ein Lebewesen oder einen Gegenstand zeigt und lässt die Versuchspersonen so schnell wie möglich eine von zwei zugewiesenen Reaktionstasten drücken. Diese Aufgabe ist extrem einfach und Menschen können sie in Sekundenbruchteilen praktisch fehlerfrei durchführen. Interessant ist nun, was passiert, wenn Bilder nach einiger Zeit erneut präsentiert werden. Man findet dann, dass die Reaktionszeiten für wiederholte Bilder im Durchschnitt kürzer als die Reaktionszeiten bei den ersten Präsentationen sind. Dies bezeichnet man als Bahnungseffekt (oder kurz Priming).

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1.2 Wiederholungen: Schöner

Für unser nächstes Experiment wählen wir den gleichen Grundaufbau wie für das Priming-Experiment. Wir präsentieren wieder Bilder in zufälliger Reihenfolge und wiederholen nach einiger Zeit die Präsentationen. Aber dieses Mal messen wir keine Reaktionszeiten, sondern fragen unsere Versuchspersonen, wie gut ihnen das jeweilige Bild gefällt. Dazu lassen wir sie beispielsweise nach jedem Bild einfach eine Zahl zwischen Null („gefällt mir gar nicht“) und Zehn („gefällt mir sehr gut“) angeben. Wenn wir uns jetzt in die Lage einer Versuchsperson versetzen, kommt uns diese Aufgabe vielleicht sinnlos vor. Wir gehen natürlich davon aus, dass uns ein Bild nicht mehr oder weniger gefallen wird, nur weil wir es ein paar Minuten zuvor schon einmal gesehen haben. Ein typisches Ergebnis eines solchen Wiederholungsexperimentes zeigt jedoch, dass die wiederholten Bilder im Durchschnitt tatsächlich positiver beurteilt werden als die Erstpräsentationen. Im Fachjargon wird dieser überraschende Befund als Mere-Exposure-Effekt bezeichnet [3].

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1.3 Wiederholungen: Berühmter

Die erleichterte Bearbeitung wiederholter Information kann uns noch auf andere Art und Weise auf's Glatteis führen. Larry Jacoby und seine Kolleg*innen präsentierten ihren Versuchspersonenen in einer ersten Phase eines Wiederholungsexperimentes Namen von unbekannten Personen [4]. Diese unbekannten Namen sollten einfach gelesen werden. Einen Tag später wurde den Versuchspersonen wieder eine Liste mit Namen vorgelegt – jedoch diesmal mit der Aufgabe, zu entscheiden, ob es sich jeweils um eine berühmte oder eine nichtberühmte Person handelt. In dieser Testphase gab es a) nichtberühmte Namen vom Vortag, b) neue nichtberühmte Namen und c) neue berühmte Namen. Der Titel dieser Studie „Becoming famous over night“ (Über Nacht berühmt werden) verrät das Ergebnis: Nichtberühmte Namen, die in der ersten Phase des Experimentes vorkamen, wurden am zweiten Tag mit höherer Wahrscheinlichkeit für berühmt gehalten als neue nichtberühmte Namen.

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1.4 Wiederholungen: Glaubwürdiger

Bis hierher haben wir gesehen, dass die Wiederholung von Informationen zu einer schnelleren allgemeinen Verarbeitung (Priming), zu einer positiveren Einstellung (Mere exposure effect) und zu einer Überschätzung der Berühmtheit von Personen (False fame) führt. Wie sieht es nun mit inhaltlich etwas komplexeren Botschaften aus, wie sie für unseren Medienalltag typisch sind? Die nächste Studie beschäftigte sich mit der Glaubwürdigkeit von Schlagzeilen, die verschiedenen Boulevardblättern entnommen waren [5]. Darunter waren auch eher weniger glaubwürdige Aussagen, wie zum Beispiel: „Chlor im Schwimmbecken kann gegen Hautkrebs helfen“. Die Versuchspersonen sollten in diesem Experiment auf einer Skala angeben, für wie glaubwürdig sie die jeweilige Aussage hielten. Wie schon in den zuvor besprochenen Experimenten wurde ein Teil der Schlagzeilen später unter der gleichen Aufgabenstellung erneut präsentiert. Sie ahnen das Ergebnis: Wiederholte Schlagzeilen hatten im Durchschnitt höhere Glaubwürdigkeitswerte als erstmalig präsentierte Schlagzeilen. Wie lässt sich dieser Befund erklären?

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1.5 Wiederholungen: Zusammenschau

Die zentrale Botschaft dieses Kapitels ist, dass Wiederholungen wirken. Es ist daher nicht einfach nur ein nerviges Ärgernis, wenn der Präsident der U.S.A. über Monate seine fast 80 Millionen Twitter-Follower vor einer „Karawane“ von gewaltbereiten Kriminellen warnt [6]. Wir haben gesehen, dass auch wenig glaubwürdige Botschaften durch die Wiederholung an Glaubwürdigkeit gewinnen. Auch die BILD erreicht in Deutschland täglich über 8 Millionen Leser*innen [7]. Es ist allein aufgrund dieser großen Reichweite von Bedeutung, wenn die BILD systematisch abfällig über „die faulen Griechen“ berichtet. Dabei spielt es keine Rolle, ob die meisten Leser*innen dieses Blatt eher wenig glaubwürdig finden (– zumal die übrigen Leitmedien ähnlich verzerrt berichtet hatten [1]). In der Masse formt diese Art der Berichterstattung die öffentliche Meinung in Richtung der gesendeten Botschaft.

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Unsere Experten

– Ein Kommentar zur Impfempfehlung der StiKo für Kinder ab 12 Jahren –

Verfasst am 29.08.2021 (English summary at the end of the article)

«Die STIKO empfiehlt für alle 12 – 17-Jährigen die COVID-19-Impfung mit zwei Dosen eines mRNA-Impfstoffs [...].»

In der Ausgabe 33/2021 des Epidemiologischen Bulletins begründet die Ständige Impfkommission (STIKO) ihre aktualisierte COVID-19 Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche [1]. Die geänderte Empfehlung beruht demnach auf der Bewertung neuer quantitativer Daten und Modellen. Im folgenden Text stelle ich dar, dass die angeführten Daten mindestens ebenso gut geeignet wären, die Impfung nicht zu empfehlen.

Risiko von COVID-19 für Kinder und Jugendliche

Zur Einschätzung des Risikos der Erkrankung zunächst einige ausgewählte Textpassagen zur Epidemiologie von COVID-19 im Wortlaut:

  • «Obwohl schwere COVID-19-Erkrankungen auch im Kindes- und Jugendalter vorkommen können, zeigt der überwiegende Teil einen asymptomatischen oder milden bzw. moderaten Infektionsverlauf von ein- bis zweiwöchiger Dauer.»

  • «Die Mortalität von COVID-19 [...] bei 0 – 19-Jährigen [...] beträgt 0,17/100.000 Einwohner.» (Fußnote 1)

  • «Die Hospitalisierungsinzidenz und Todesfallzahl für COVID-19 bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 12 – 17 Jahren liegen auf einem vergleichbar niedrigen Niveau wie die Hospitalisierungsinzidenzen (Spanne: 1 – 26/100.000) und Todesfallzahlen (1 – 14) für Influenza in den Saisons 2009/2010 bis 2018/2019.»

  • «In der Auswertung zeigte sich, dass Kinder mit COVID-19 nicht häufiger von Spätfolgen betroffen waren als Kinder ohne COVID-19.»

  • «Die verfügbaren Studien zur Transmission weisen darauf hin, dass Kinder und Jugendliche eine untergeordnete Rolle bei der Weiterverbreitung von SARS-CoV-2 spielen.»

  • «Studienergebnisse wie diese legen nahe, dass es unwahrscheinlich ist, dass Bildungseinrichtungen eine zentrale Rolle für das Infektionsgeschehen in der Pandemie spielen.»

(Dass die obige Auswahl keine Rosinenpickerei darstellt, kann schnell anhand des kurzen Fazits der STIKO im Abschnitt 3.4 auf S. 25 selbst nachvollzogen werden.)

Unter dem Strich stellt die STIKO also fest, dass das Gesundheitsrisiko von COVID-19 für Kinder und Jugendliche eher gering ist und dass diese Altersgruppe vergleichsweise wenig zur Verbreitung von Sars-Cov-2 beiträgt. Insbesondere vor diesem Hintergund wäre zu fordern, dass der Nutzen der empfohlenen Impfung beträchtlich sein muss, da ja das mittel- und langfristige Risiko der Impfung aufgrund des beschleunigten Zulassungsverfahrens unbekannt ist (Fußnote 2). Nicht von ungefähr sind alle derzeit in Deutschland eingesetzten Impfstoffen nur «bedingt» zugelassen, weil die Hersteller zugunsten der sofortigen Verfügbarkeit weniger umfangreiche Daten als normalerweise erforderlich vorlegen mussten. (In den USA hat die FDA unverständlicherweise gerade die reguläre Zulassung des Pfizer/BioNTech Impfstoffs erteilt [2].)

Nutzen und Risiken der Impfung für Kinder und Jugendliche

Wie groß sind also Nutzen und Risiken der Impfung? Hier unterscheidet die STIKO in ihrer Begründung den direkten Nutzen für die Geimpften selbst und den indirekten Nutzen im Hinblick auf die prognostizierte Gesamtentwicklung des Infektionsgeschehens. Die STIKO bezieht sich bei ihrer Bewertung in erster Linie auf die klinische Phase 2/3-Studie von Pfizer/BioNTech, in der 1005 Kindern und Jugendlichen der Impfstoff und 978 ein Placebo verabreicht wurden [3]. Als primärer Endpunkt (die wichtigste gemessene Zielgröße) wurde das Auftreten einer COVID-19 Erkrankung (unabhängig vom Schweregrad) im Beobachtungszeitraum von zwei bis drei Monaten definiert. Im Ergebnis wurden in der Placebo-Gruppe 16 Erkrankungen verzeichnet und keine in der Wirkstoffgruppe. Dies entspricht rechnerisch einer relativen Risikoreduktion (RRR) von 100 % (0 geteilt durch 16).

Die folgende Abbildung illustriert das Ergebnis der Studie grafisch.

Abbildung-Pfizer-Impfstoff-vs-Placebo

Abbildung: Ergebnisse der Pfizer/BioNTech Studienergebnisse für Kinder und Jugendliche im Überblick (Impfgruppe links, Placebogruppe rechts). Jedes Kästchen symbolisiert eine Person. Gelbe Kästchen sind Test-positiv.

Entgegen einschlägiger Empfehlungen verwendet die STIKO ausschließlich die relative Risikoreduktion als Indikator für die Wirksamkeit des Impfstoffs [4]. Da die relative Risikoreduktion aber insbesondere bei geringer Erkrankungshäufigkeit ein stark verzerrtes Bild zeichnen kann, ist es wichtig, auch die absolute Risikoreduktion (ARR) mit in die Bewertung einfließen zu lassen. Der kritische Punkt ist, dass die ARR die Grundwahrscheinlichkeit der Erkrankung in der Population berücksichtigt, während die RRR nur die Erkrankungsfälle selbst zueinander in Beziehung setzt. So ergibt sich im vorliegenden Fall lediglich eine absolute Risikoreduktion von ARR = 1,6 % (1,6 % minus 0 %). Dieser Kennwert ist offensichtlich weniger eindrucksvoll zu kommunizieren als die RRR von 100 %. Dass die RRR aber allein kein sinnvolles Maß für die Wirksamkeit sein kann, wird unmittelbar deutlich, wenn man bedenkt, dass sich dieser Wert unabhängig von der Stichprobengröße immer ergibt, wenn in der Impfstoffgruppe keine positiven Fälle auftreten.

Der Kehrwert der absoluten Risikoreduktion wird auch numbers-needed-to-treat (NNT) oder im Impfkontext numbers-needed-to-vaccine (NNV) genannt und kann als die Anzahl Personen interpretiert werden, die geimpft werden müssen, um einen Erkrankungsfall zu verhindern. Im Fall Pfizer/BioNTech ist NNV = 1/0,016 = 65,5. Demnach hätten im Beobachtungszeitraum rund 65 Personen geimpft werden müssen, um einen COVID-19 Fall zu verhindern.

Während eine relative Risikoreduktion von 100 % sicherlich eine hohe Wirksamkeit suggeriert, könnte man eine absolute Risikoreduktion von 1,6 % durchaus auch als eher geringe Wirksamkeit werten (Fußnote 3). Weiterhin sollte man berücksichtigen, dass die Studie keine Aussagen über die Verhinderung von schweren Krankheitsverläufen treffen kann. Diese sind so selten, dass sie im Rahmen der Studie nicht auftraten. Letztlich könnte man also die Ergebnisse zur Effektivität auch so beschreiben: 1000 Impfungen verhinderten das Auftreten von 16 milde verlaufenden Atemwegserkrankungen.

Diesem Ausgang stehen die durch die Impfung verursachten Nebenwirkungen gegenüber, die glücklicherweise ebenfalls als überwiegend mild bezeichnet werden können. Schwere unerwünschte Ereignisse wurden als Folge der Impfung nicht beobachtet. Allerdings stellt die STIKO auch klar, «Bei kurzer Nachbeobachtungszeit und relativ kleinen Studienpopulationen können sehr seltene Nebenwirkungen in den Zulassungsstudien nicht sicher erkannt werden». Ergänzend muss wieder darauf hingewiesen werden, dass keine Daten zu Langzeitnebenwirkungen existieren (können). Dass es sich bei mRNA-Impfstoffen um eine bislang nie am Menschen – geschweige denn am heranwachsenden Menschen – eingesetzte Technologie handelt, sollte mit besonderem Gewicht in die Bewertung einfließen. Leider verliert die STIKO hierzu kein Wort.

Indirekter Nutzen der Impfung

Zur Untersuchung der Effekte der Impfung auf Bevölkerungsebene wurden mathematische Modellierungen durchgeführt. Ohne den Nutzen solcher Modelle grundsätzlich infrage zu stellen, sollte man bei der Interpretation stets berücksichtigen, dass die jeweiligen Vorhersagen durchaus sehr weit daneben liegen können und in Bezug auf COVID-19 auch oft lagen [5]. Aber selbst wenn das Modell der STIKO ausgesprochen zuverlässig sein sollte, können die Ergebnisse trotzdem kritisch interpretiert werden. Die STIKO schreibt in ihrem Fazit zur Modellierung:

«Unter der Annahme einer Impfquote von 50 % unter gesunden 12 – 17-Jährigen Kindern (und einer Impfquote von 75 % bei den Erwachsenen) könnten geschätzt 37 % der Meldefälle (symptomatische und asymptomatische Fälle), 36 % der Hospitalisierungen und 36 % der intensivmedizinisch versorgten Fälle in der Altersgruppe 12 – 17 Jahre im Zeitraum August bis Dezember 2021 zusätzlich verhindert werden.»

Dies klingt zunächst in relativen Zahlen wieder sehr eindrucksvoll. In absoluten Zahlen entspricht aber beispielsweise die angeführte 36-prozentige Reduktion der intensivmedizinisch versorgten Fälle lediglich 36 Personen (S. 39, Tabelle 14). Laut Statistischem Bundesamt gibt es in Deutschland rund 4,5 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren (Stichtag 31.12.2020). Nach der Modellrechnung würde also die Impfung von gut 2 Millionen Kindern und Jugendlichen dazu führen, dass 36 Personen weniger intensivmedizinisch betreut werden müssten. Selbstverständlich steht hinter jedem realen Fall ein individuelles Schicksal, aber in der Gesamtbetrachtung von Nutzen und Risiken scheint die Verhältnismäßigkeit doch zumindest fraglich. Fairerweise muss man zugestehen, dass die STIKO darauf hinweist, dass die prognostizierten absoluten Zahlen mit Vorsicht zu interpretieren sind und dass die Modelle in erster Linie dazu dienen, den Effekt verschiedener Impfquoten zu vergleichen (S. 39). Diese Argumentation führt aber letztlich zu der unspektakulären Erkenntnis, dass höhere Impfquoten mit niedrigeren Infektionszahlen einhergehen. Die Angabe absoluter Zahlen ist wichtig, um zumindest die ungefähre Größenordnung der Effekte besser einschätzen zu können.

Die Simulationsrechnungen zeigen also, dass (a) höhere Impfquoten mehr Infektionen verhindern als niedrige Impfquoten, aber (b) in absoluten Zahlen nur wenige schwere Verläufe verhindert werden. Da ersteres trivial und letzteres eine Folge der insgesamt seltenen schweren Verläufe ist, können die Simulationen wenig zur Entscheidungsfindung beitragen.

Zusammenschau

Die wesentlichen Fakten, mit der die STIKO ihre Empfehlung begründet, lassen sich damit in zwei Punkte kondensieren:

  1. COVID-19 ist für die überwiegende Mehrheit gesunder Kinder und Jugendlicher nicht gefährlich, aber es gibt auch sehr seltene, schwere Verläufe.
  2. Die Impfung ist kurzfristig gut verträglich, aber mittel- und langfristige Folgen sind unbekannt.

Aus meiner persönlichen Sicht sind nun die wesentlichen Aspekte für eine Abwägung einerseits der Nutzen in Hinblick auf schwere Verläufe und andererseits die Risiken durch mögliche Spätfolgen. Die Tatsache, dass die STIKO in ihrer Begründung mittel- und langfristige Folgen lapidar mit dem Hinweis auf fehlende Daten ausblendet, ist mehr als ärgerlich. Man geht an dieser elementaren Stelle per se von einem best case Szenario aus. Da aber der Schutz von sich in der Entwicklung befindenden Kindern und Jugendlichen höchsten Stellenwert haben sollte, ist diese Form strategischer Ignoranz unangemessen.

Unabhängigkeit der Wissenschaft

Die von der STIKO angeführten Daten könnten also nach den obigen Betrachtungen auch verwendet werden, um die allgemeine Impfung von Kindern und Jugendlichen nicht zu empfehlen. Warum man sich für die Empfehlung entschieden hat, lässt sich von außen natürlich nicht beantworten. Aus wissenschaftlicher Perspektive erscheint es aber bedenklich, dass ein STIKO-Mitglied bereits im Vorfeld der offiziellen Empfehlung mit der Aussage zitiert wurde, «Wir werden versuchen, der Politik ein bisschen entgegenzukommen» [6].

Unbenommen der Möglichkeit, dass dieses Zitat aus dem Kontext gerissen sein könnte (das entsprechende Interview des RBB scheint nicht mehr abrufbar zu sein), ist auf das «unabhängige Expertengremium» zweifellos massiver politischer Druck ausgeübt worden, nachdem die Impfung von Kindern und Jugendlichen zunächst nicht empfohlen wurde. So bezeichnete etwa Bayerns Ministerpräsident Markus Söder die Mitglieder der STIKO groteskerweise als «ehrenamtliche Amateure» [7]. Im gleichen Beitrag verwies Ministerpräsident Söder auf eine dubiose «Mehrzahl von Experten» und bemängelte ein «Hinundher» bei den STIKO Empfehlungen zum Impfstoff von AstraZeneca.

Diese Posse verdeutlicht zum Einen das Verhältnis von Politik zur beratenden Wissenschaft. Cairney (2021) weist darauf hin, dass mit, «Folge der Wissenschaft!» in der politischen Praxis in der Regel gemeint ist, «Folge unseren Experten!» – d.h. denjenigen, die unserer Meinung sind und sich den Regeln des politischen Spiels unterwerfen [8]. Zum Anderen kommt in Ministerpräsident Söders Äußerungen ein zweifelhaftes Verständnis von Wissenschaft zum Ausdruck. Das angeprangerte Hinundher ist ein wesentlicher Bestandteil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Bestehende Ansichten im Lichte neuer Erkenntnisse zu hinterfragen, steht im Zentrum wissenschaftlichen Arbeitens. Die ständige Bereitschaft zu irren, unterscheidet die Wissenschaft von religiösen oder anderen absolutistischen Glaubenssystemen. Der Wunsch nach einer Mehrheit von Experten, die die eigene Auffassung teilen, ist nachvollziehbar. Es ist aber nicht die Aufgabe von Wissenschaftler*innen, für die Politik eine Mehrheitsmeinung zu erzeugen und politische Entscheidungen zu fällen. Wenn dem so wäre, bräuchte man keine Politiker*innen.


Fußnoten

Fußnote 1)

Um eine relativ abstrakte Zahl wie die oben angegebene Mortalität von 0,17 Todesfällen pro 100.000 Kinder und Jugendliche mit etwas Kontext zu versehen, hier eine Auswahl von Todesursachen in der Altersgruppe unter 20 Jahren aus dem Jahr 2019:

Todesursache (nach ICD-10) Todesfälle pro 100.000
Insgesamt 28,90
Best. Zustände mit Ursprung in der Perinatalperiode   8,83
Bösartige Neubildungen (BN) 2,41
Transportmittelunfälle 1,59
Leukämie 0,53
Ertrinken und Untergehen 0,33
Akzid. Vergiftung: schädl. Substanzen (inkl. Exp.) 0,17
Stürze 0,16
Pneumonie 0,13
Grippe 0,10

(Datenquelle: Statistisches Bundesamt; eigene Berechnung)

Demnach werden bei den unter Zwanzigjährigen durch COVID-19 ähnlich viele Todesfälle verursacht wie durch versehentliche Vergiftungen und Stürze. Doppelt so viele Kinder und Jugendliche ertrinken und zehnmal mehr sterben durch Verkehrsunfälle.

Fußnote 2)

Im Hinblick auf die zukünftige Bewertung von Langzeitfolgen ist es hochproblematisch, dass im Zuge von Protokolländerungen geplant wurde, Probanden, die ursprünglich das Placebo herhalten hatten, vorzeitig in den Behandlungsarm der Studie wechseln zu lassen. Damit wird die Aussagekraft in Hinblick auf langfristige Effekte von vornherein massiv eingeschränkt.

Fußnote 3)

Die Aussagekraft der Daten zur Wirksamkeit wird zusätzlich durch einige ungünstige Eigenschaften des Studiendesigns und -ablaufs beeinträchtigt. Die Zuweisung der Probanden zur Impf- oder Placebo-Gruppe erfolgte zwar randomisiert, aber nicht doppelt verblindet. Während die Prüfärzt*innen protokollgemäß wussten, was sie verabreichten, waren die Probanden in der Theorie blind gegenüber der Behandlungsform. Da jedoch das Nebenwirkungsspektrum von Impfstoff und NaCl-Lösung sehr unterschiedlich ist, kann angenommen werden, dass zumindest ein Teil der Probanden beider Gruppen einen gut begründeten Verdacht über die eigene Gruppenzugehörigkeit gehabt haben könnte. Diese mögliche, ungewollte Entblindung ist besonders deswegen problematisch, da die Erfassung des primären Endpunktes des Studie (COVID-19 Diagnose) durch die Meldeprozedur verzerrt werden konnte (reporting bias). Probanden mussten sich beim Auftreten bestimmter Krankheitymptome selbstständig im Prüfzentrum melden. In Absprache mit dem Prüfzentrum wurde dann ein PCR-Test veranlasst oder auch nicht. Gerade bei einer Erkrankung, die mit überwiegend milden Verläufen einhergeht, kann nicht ausgeschlossen werden, das die Bereitschaft, Symptome zu melden und sich testen zu lassen, vom Wissen über die Behandlungsform beeinflusst wird. Ergebnisverzerrungen durch Entblindung sind keine Seltenheit und können erheblich sein. In einem Vergleich von klinischen Studien mit und ohne Verblindung der Probanden fanden Hróbjartsson et al. (2014), dass die gemessenen Effekte in Studien ohne Verblindung durchschnittlich 112 % größer ausfielen [9]. Da die Gesamtzahl positiver Fälle in der Studie von Pfizer/BioNTech (n = 16) sehr gering ist, könnte bereits eine Handvoll nicht gemeldeter Fälle in der Impfgruppe die geschätzte Effektivität signifikant verringern.


Quellen

[1] Wissenschaftliche Begründung der STIKO für die Empfehlung zur Impfung gegen COVID-19 bei Kindern und Jugendlichen von 12 – 17 Jahren. Epidemiologisches Bulletin, 33/2021, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/33_21.pdf

[2] FDA Pressemitteilung, https://www.fda.gov/news-events/press-announcements/fda-approves-first-covid-19-vaccine (letzter Zugriff 29.08.2021)

[3] Frenck, R. W., Klein, N. P., Kitchin, N., Gurtman, A., Absalon, J., Lockhart, S., Perez, J. L., Walter, E. B., Senders, S., Bailey, R., Swanson, K. A., Ma, H., Xu, X., Koury, K., Kalina, W. V., Cooper, D., Jennings, T., Brandon, D. M., Thomas, S. J., … Gruber, W. C. (2021). Safety, Immunogenicity, and Efficacy of the BNT162b2 Covid-19 Vaccine in Adolescents. New England Journal of Medicine, 385(3), 239–250. https://doi.org/10.1056/NEJMoa2107456

[4] Communicating Risks and Benefits: An Evidence-Based User’s Guide is available on FDA’s Website at http://www.fda.gov/ScienceResearch/SpecialTopics/RiskCommunication/default.htm

[5] Ioannidis, J. P. A., Cripps, S., & Tanner, M. A. (2020). Forecasting for COVID-19 has failed. International Journal of Forecasting. https://doi.org/10.1016/j.ijforecast.2020.08.004

[6] Bericht in der ÄrzteZeitung, https://www.aerztezeitung.de/Politik/Neues-STIKO-Votum-zu-Kinderimpfung-gegen-Corona-in-Kuerze-421981.html (letzter Zugriff 29.08.2021)

[7] BR24 Interviewausschnitt auf Youtube, (letzter Zugriff 29.08.2021)

[8] Cairney, P. (2021). The UK Government’s COVID-19 Policy: What Does “Guided by the Science” Mean in Practice? Frontiers in Political Science, 3, 11. https://doi.org/10.3389/fpos.2021.624068

[9] Hróbjartsson, A., Emanuelsson, F., Skou Thomsen, A. S., Hilden, J., & Brorson, S. (2014). Bias due to lack of patient blinding in clinical trials. A systematic review of trials randomizing patients to blind and nonblind sub-studies. International Journal of Epidemiology, 43(4), 1272–1283. https://doi.org/10.1093/ije/dyu115


English summary

A Comment on the German Standing Committee on Vaccination's recommendation of mRNA vaccines for childrem from the age of 12

Since August 18, 2021, the STIKO, – i.e. the Standing Committee on Vaccination, an independent advisory board of the German Robert-Koch-Institut (the equivalent of the CDC in the USA), – recommends mRNA COVID-19 vaccines for all German children and adolescents from the age of twelve. Supposedly, new empirical evidence and modeling work led to this change of heart. In this commentary I argue that the evidence presented by the STIKO could equally well be used to not recommend the vaccination of healthy children.

Selected statements from the STIKO report:

  • In children, the course of the disease is mostly asymptomatic, mild, or moderate.
  • Hospitalisation and death due to the disease are very rare. The mortality rate is low at 0.17/100,000..
  • Children play a minor role for the spread of the disease.
  • The available vaccines are highly effciant and are not associated with severe adverse events.
  • Medium and long-term effects of the vaccines are unknown.
  • Modeling shows that the vaccination of children would have significant beneficial direct effects (protection of the vaccined) and indirect effects (e.g., lowering the number of hospitalisations) at population level.

Reviewing the epidemiological evidence, it seems uncontroversial that for the majority of children, COVID-19 does not pose a significant risk. In addition, children seem to be less infectious than adults. Regarding the vaccines, an efficacy of 100 % has been reported and no serious side-effects are known to date. This is controversial for a several reasons. Firstly, the efficacy is only reported as reduction of relative risks, although it is good practise to report absolute risks. For the Pfizer/BioNTech vaccine the absolute risk reduction is only 1.6 %. The main result of the vaccine trial (depicted in the figure) could thus be communicated in a much less impressive way, namely that 1000 children had to be vaccinated to prevent a mild respiratory illness in 16 children. Further criticism can be put forward concerning the definition of the study's primary endpoint (mild symptoms plus positive PCR-test instead of a clinical diagnosis of severe illness) as well as the study design (possible reporting bias and accidental unblinding). Secondly, the strategic ignorance of potential long-term effects of the vaccines is unacceptable. The vaccines' approval by the EMA ist conditional for a reason, namely because there is only limited data on efficacy and safety available. Due to the speeded development and testing there simply cannot be any knowledge about long-term effects – epecially not in developing children. This valid and most important argument is absent in the STIKO report. Since COVID-19 is not dangerous for most children, it must be mandatory to take any possible harm of the vaccine into consideration!

The modeling data presented by the STIKO points to a significant reduction of cases in relative terms but, again, in absolute terms the effects are much less impressive. According to the most extensive model (50 % vaccinated) the vaccination of 2 million children (age 12–17) would prevent the hospitalisation of 36 patients. These numbers, again, reflect the low base rate of severe outcomes of COVID-19 in children.

Consequently, the data presented could (or should) have led to the decision to maintain the STIKO's former recommendation – to not vaccinate healthy children. In the last part of the commentary I discuss political pressure on the STIKO which poses a general threat to scientific independence.

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